Neuer Roman von Sayed Kashua: Spiel mit Fakten und Fiktion
Sayed Kashua, israelischer Schriftsteller arabischer Herkunft, legt mit „Lügenleben“ den ersten Roman nach seiner Emigration in die USA vor.
Sayed Kashua ist vor fünf Jahren aus Israel in die USA emigriert. Nach einigen persönlichen Erfahrungen und Anfeindungen erlosch für ihn langsam, aber sicher die Hoffnung, „es könnte eines Tages möglich sein, dass Juden und Araber eine Geschichte hätten, welche die Geschichte des jeweils anderen nicht leugnet“, wie er damals im Spiegel schrieb.
In den Staaten unterrichtet er heute an der University of Illinois. „Lügenleben“ ist der erste Roman, der aus dieser Außenposition des freiwilligen Exils heraus entstanden ist (zugleich das letzte Buch, das die Anfang des Jahres verstorbene Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt hat). Wie alle Romane Kashuas spiegelt auch dieser in mancherlei Hinsicht die Lebenssituation seines Autors wider.
Die vielfachen Identitätsfallen, die ein Leben als arabischer Israeli und dabei erfolgreicher hebräischsprachiger Schriftsteller bereithält, sind stets ein reicher Nährboden für Kashuas Werk gewesen, das geistreiche Spiel mit Realität und Fiktion eine Art Markenzeichen seiner Prosa. Aber keiner seiner bisherigen Romane hat den Schmerz, den es bedeuten kann, ein Leben zwischen verschiedenen Identitätsmustern zu führen, mit so existenzieller Dringlichkeit beschrieben wie dieser hier.
Wie alle Erzähler in Kashuas Romanen hat auch der Protagonist von „Lügenleben“ ein paar Dinge mit seinem Autor gemeinsam, wobei offenbleibt, wie weit die Gemeinsamkeiten gehen. Auf jeden Fall lebt auch er seit ein paar Jahren mit Frau und Kindern in den USA. Auch der namenlose Ich-Erzähler ist ein palästinensischer Autor mit israelischer Staatsbürgerschaft, und auch er stammt aus dem Ort Tira. Alles andere ist vermutlich anders, und im Detail ist das auch egal.
Es ist eine fiktionale, alternative Existenz für sich selbst, die Kashua entwirft, ein Was-wäre-wenn-Spiel, in dem einem jungen palästinensischen Intellektuellen vom Schicksal weniger glückbringende Karten zugeteilt wurden als ihm selbst.
Verlust der Erinnerungen
Der Ich-Erzähler des Romans befindet sich offenbar in einem anhaltenden existenziellen Dilemma, dessen Ursachen und Dimension zunächst im Unklaren bleiben. Er unternimmt eine Reise nach Israel, weil sein alter Vater, mit dem er seit seiner Hochzeit keinen Kontakt mehr hatte, dort mehr oder weniger im Sterben liegt. Die Reise ist einem strengen Budget unterworfen, das der Erzähler von seiner Frau zugeteilt bekommen hat, die an einer amerikanischen Universität arbeitet.
Sayed Kashua: „Lügenleben“. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2019. 272 S., 24 Euro
Das Paar hat drei Kinder zusammen, lebt jedoch nicht unter einem Dach. Während die Frau mit den Kindern das gemeinsame Haus bewohnt, haust der Erzähler in einem Studentenapartment. Das wenige Geld, das er selbst verdient, erschreibt er sich als Ghostwriter.
Einst hatte er in Israel auf eine Karriere als Journalist gehofft, die aber nicht recht in Schwung und gänzlich zum Erliegen gekommen war, nachdem die Veröffentlichung seines einzigen literarischen Textes, einer Kurzgeschichte, zu einem Skandal und daraufhin zur erzwungenen Heirat mit seiner Frau geführt hatte, die er zuvor gar nicht gekannt hatte.
Was es mit dieser Kurzgeschichte auf sich hat, wird nach und nach entschleiert – und an ihr exemplarisch gezeigt, wie fatal es sein kann, Fiktion und Fakten leichtfertig zu vermischen. Denn da die Frau des Erzählers den seltenen Vornamen Falestin trägt (was hochgradig metaphorisch ist, da es gleichzeitig Palästina bedeutet) – ebenso wie die Heldin der so erotisch wie patriotisch aufgeladenen Kurzgeschichte –, ist sie von den literarisch wenig gebildeten Bewohnern des Dorfes, aus dem sowohl sie als auch der Erzähler stammen, mit der fiktiven Figur gleichgesetzt worden – was ihren sozialen Ruin und infolgedessen die Zwangsheirat mit dem Autor bedeutet hat. Kein guter Beginn für eine Ehe.
Ein weiteres Spannungsfeld wird durch die Autobiografien gebildet, die der Autor für andere Menschen schreibt. Da die Erinnerungen seiner AuftraggeberInnen oft große Lücken haben, füllt er diese mit eigenen Erlebnissen. Doch während die KundInnen die hinzugefügten Erinnerungen umstandslos als ihre akzeptieren, gehen sie dem Autor gleichzeitig für den eigenen Gebrauch verloren. Dass dieser Verlust der schönen Erinnerungen quasi pathologisch ist und sich zurückführen lässt auf eine Ursünde, nämlich das Stehlen der sehr intimen Erinnerung eines anderen, wird erst ganz zum Schluss offenbart.
„Lügenleben“ ist ganz wie frühere Kashua-Werke sehr elegant und intelligent komponiert, und doch ist dieser Roman anders; es fehlen ihm sowohl die Momente plötzlich aufbegehrenden Zorns als auch die Momente spielerischer Leichtigkeit, mit denen die anderen Romane gesprenkelt waren. Es ist ein ungemein ernstes, konzentriertes Buch. Seine Haltung zu den Themen, die es verhandelt, ist von einer neuen existenziellen Unbedingtheit. Von einer Hoffnung auf bessere Zeiten ist darin rein gar nichts mehr zu spüren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!