Neuer Roman von Kamel Daoud: Mit der inneren Stimme einer Erzählerin
In Algerien darf an die Opfer des Bürgerkrieges nicht erinnert werden. Kamel Daoud erzählt literarisch ausgesprochen kunstvoll gegen dieses Dekret an.
Einer der vergessenen Kriege der letzten Jahrzehnte ist der Bürgerkrieg in Algerien, bei dem zwischen 1992 und 2002 mindesten 100.000 Menschen starben. Der Journalist und Schriftsteller Kamel Daoud wurde wegen seiner kritischen Berichte über die Kämpfe zwischen islamistischen Gruppen und der Regierungsarmee auch nach dem Ende des Krieges immer wieder von beiden Seiten bedroht und lebt deshalb seit 2014 im Exil in Frankreich.
Sein Roman „Huris“ wurde im vergangenen Jahr mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun ist er auf Deutsch erschienen. Er erinnert an die Opfer dieses Krieges, der sowohl von den Islamisten als auch von der Armee rücksichtslos und brutal geführt wurde.
Huris, das sind die Jungfrauen, die im Islam angeblich fromme Männer nach ihrem Tod im Paradies erwarten. „Meine Huri“ nennt Aube, die Ich-Erzählerin des Romans, zärtlich-sarkastisch ihre ungeborene Tochter. Der Vater des Kindes, ein Fischer, ist über das Mittelmeer nach Europa verschwunden.
Kamel Daoud: „Huris“. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Matthes & Seitz, Berlin 2025. 398 Seiten, 28 Euro
Mit drei illegal erworbenen Abtreibungspillen will sie ihre Tochter wieder zurück ins Paradies schicken. Denn das Leben als Frau in Algerien, so Aube, sei die Hölle. Doch sie zögert. In einem inneren Monolog schildert sie ihrem ungeborenen Kind ihr Schicksal und das, was sie gerade erlebt.
Durchtrennte Stimmbänder
Aube hatte nur durch unwahrscheinliches Glück den Bürgerkrieg überlebt. Als sie fünf Jahre alt war, drangen Islamisten in ihr kleines Dorf in die abgelegene Region Had Chekala ein und töteten Hunderte Dorfbewohner. Ein Mann versuchte, ihr die Kehle durchzuschneiden, durchtrennte dabei Stimmbänder und Luftröhre. Seitdem kann sie nicht mehr sprechen und nur noch mithilfe einer am Hals angebrachten Hilfe atmen.
Von einer Rechtsanwältin, die sich damals für die Opfer des Krieges engagierte, wird sie adoptiert und wächst im rund 200 Kilometer entfernten Oran auf. Dort macht sie nach dem Abschluss der Schule in einem Vorort einen Friseursalon auf. Als der Salon eines Tages, kurz vor dem Opferfest, verwüstet wird, hat Aube den Imam der Moschee gegenüber als Anstifter in Verdacht.
Dass sie, die nicht einmal ihr Haar bedeckt, den Salon überhaupt aufmachen konnte, läge nur an der langen Narbe und dem Schlauch an ihrem Hals, der die Grausamkeit der religiösen Eiferer unübersehbar mache. Als sich dann selbst die Polizei mehr für ihren Lebenswandel interessiert als für die Täter, bricht sie mit ihrem kleinen Auto in Richtung Osten auf, in Richtung Had Chekala.
Es sind verschiedene Motive, die Kamel Daoud kunstvoll mit der Geschichte einer Erzählerin verschränkt. Ihre „innere Sprache“ beispielsweise, mit der sie ihrem ungeborenen Kind die Situation der Frauen in Algerien schildert, ist für sie die wahre Sprache. Die „äußere Sprache“ dagegen regelt nur das Nötigste im Alltag. Die innere Sprache ist die Sprache des Romans, Französisch, die schon in der Schule für Aube die genauere, die freiere Sprache war, im Gegensatz zu Arabisch, der offiziellen Sprache Algeriens.
Lage der Intellektuellen
Gleichzeitig ist „Huris“ auch ein Roman über die Lage der Intellektuellen in Algerien. Nachdem Aube bei einer Autopanne von drei Männern ausgeraubt wird, liest sie Aissa Guerdi auf, einen Verleger und Buchhändler, der mit seinem kleinen Lieferwagen die Kochbücher seiner Verlagsbuchhandlung ausfährt. Als er ihre Narbe und den Schlauch an ihrem Hals sieht, gerät er aus dem Häuschen. „Es ist der einzige Beweis, den wir haben!“, sagt er, der wie Aube ein Massaker der islamistischen Guerrilla überlebt hatte. „Im wahren Leben glaubt mir niemand mehr, und schreiben kann ich nicht.“
Dass Aissa Guerdi nur noch Kochbücher statt literarische und philosophische Werke verkauft, geht auf seinen Vater zurück, den die Islamisten während des Bürgerkriegs dazu gezwungen hatten, Verlag und Buchhandlung darauf umzustellen. Schon der Großvater aus der angesehenen Familie war in den 1950er Jahren zwischen die Mühlen von Kolonialmacht und Befreiungsbewegung geraten und wahrscheinlich von der FLN, der Nationalen Befreiungsfront, ermordet worden.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 2002, nach der Generalamnestie, durften die Opfer nicht mehr an ihr Leid erinnern, und die ehemaligen Terroristen wurden verpflichtet, nicht mehr an ihre Gräueltaten zu erinnern. Sie sollten behaupten, so die bittere Ironie des Romans, sie seien in den Bergen nur die Köche gewesen.
Gleichzeitig wurde mit einem Gummiparagrafen, dessen Text Daoud seinem Roman voranstellt, der sogenannten Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung, bei Gefängnis von drei bis fünf Jahren verboten, an den Bürgerkrieg zu erinnern oder anderweitig, wie es heißt, „den Institutionen der Demokratischen Volksrepublik Algerien Schaden zuzufügen“. Letztes Opfer dieser gegen jegliche Kritik an der Regierung gerichteten Gesetzgebung war Boualem Sansal, Schriftsteller und Freund von Kamel Daoud, der im März dieses Jahres zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er in einem Interview die Grenze zwischen Marokko und Algerien infrage gestellt hatte.
Klage gegen den Roman
„Huris“ ist ein unter die Haut gehender Roman. Er ist Ausdruck der Empathie, mit der sich Kamel Daoud in die Lage einer Frau versetzt und ihre Geschichte erzählt. Das mag für einige ein identitätspolitisches Sakrileg sein. Aber Aube ist eine literarische Figur, der Roman ein komplexes Geflecht aus Motiven, sprachlich kunstvoll überhöht.
Was auch bei der Entscheidung über die Klage zu berücksichtigen wäre, die Saâda Arbane, eine algerische Frau mit demselben Schicksal wie Aube, gegen Kamel Daoud angestrengt hat. Sie fordert 200.000 Euro Schadensersatz, weil Daoud Details ihrer Geschichte von seiner Frau übernommen habe, bei der Arbane in psychiatrischer Behandlung war.
Die bisher bekannten Details lassen allerdings eher annehmen, dass es sich hier um einen Fall wie den von Christoph Peters handelt. Dessen Roman „Innerstädtischer Tod“ hatte das Galeristenehepaar König zu verbieten versucht, weil es sich in Figuren des Roman dargestellt glaubt. Doch die Klage wurde Ende August zugunsten der Kunstfreiheit vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Im Übrigen wäre es mehr als fraglich ist, ob Daoud in Algerien, wo sein Roman nicht erscheinen darf, überhaupt ein faires Verfahren gemacht werden wird, wo die Regierung ein großes Interesse an seiner Verurteilung hat.
Die erzählerische Intensität von Kamel Daoud zieht den Leser unwillkürlich mit. Eine Intensität, die Ausdruck der Tragik in einem Land ist, in dem eine autoritäre Regierung die Vergangenheit gesetzlich zu verdrängen versucht. Und in der das Verdrängte in der Gewalt gegen Frauen und kritische Intellektuelle hervorbricht. „Huris“ ist ein literarisch überzeugender Roman, der den Opfern des Bürgerkriegs eine Stimme gibt. Opfer, an die heute in Algerien niemand mehr erinnern darf.
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