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Neuer Roman von Julia FranckBrüderchen und Schwesterchen

In ihrem Roman "Rücken an Rücken" lässt Julia Franck ihre Figuren stürzen und sinken. Und keiner hilft ihnen. Die Geschichte ist – verfremdet – die ihrer eigenen Familie.

Anders als im Märchen kommt in Julia Francks Roman niemand, um die Kinder zu retten. Bild: Photoriegger/Photocase.com

Es gibt Szenen in diesem Buch, die sind unerträglich. Unerträglich. Denn hier werden zwei Kinder gequält. Sie werden gedemütigt, zugerichtet, misshandelt, begrabscht, ausgegrenzt und ausgehungert. Thomas und Ella heißen die beiden. Kai und Gerda wären auch passende Namen. Oder Hänsel und Gretel, Jorinde und Joringel. Auf jeden Fall: Opfer des mächtigen Bösen. Aber anders als im Märchen kommt in Julia Francks neuem Roman "Rücken an Rücken" niemand herbei, um die Kinder zu retten.

Sie sind verloren, geworfen in ein böses Zauberreich namens DDR. Verflucht und verstoßen von ihrer Mutter, einer kaltherzigen Königin, die die Bildhauerkunst, ihren Hund und den Sozialismus mehr liebt als diese, ihre beiden: Thomas und Ella. Betritt von außen jemand die Szenerie - jemand, der sehen würde, helfen könnte -, dauert es nicht lang, bis auch diese Person den schönen Jungen, das hübsche Mädchen missbraucht. Körperlich, seelisch, egal. Und als die elenden Kinder endlich alt genug sind, fliehen zu können, da wächst um sie herum eine tödliche Dornenhecke: Es ist 1961, Berliner-Mauer-Sommer. Ab nun ist der Königinnenpalast nur mehr ein Verlies. Halt! Staatsgrenze!

Warum diese Grausamkeit?

Julia Franck hat das so entschieden. Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2007 erzählt in "Rücken an Rücken" nur wenig verfremdet die Geschichte ihrer eigenen Familie. Francks jüdische Großmutter war die vor zwei Jahren verstorbene Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Ihre Tochter, Julia Francks Mutter, hat Ende der Siebziger mit ihren Kindern die DDR verlassen. Da war Julia Francks Onkel schon 16 Jahre tot - jener Onkel, den sie im verzweifelten, suizidalen Thomas porträtiert.

Ewige Kinder der bösen Königin

Obwohl sie die Geschichte von Thomas und Ella über den Zeitraum mehrerer Jahre erzählt, obwohl also aus den Kindern junge Erwachsene werden, bleiben sie klein. Bleiben sie die unterworfenen ewigen Kinder der bösen Königin. So wie jeder Erwachsene das Kind seiner Mutter - meist ist es die Mutter - bleibt.

Franck zeichnet diese Käthe als eine zynische Ideologin. "Bin ich Mutter von Beruf?", raunzt sie die bedürftigen Kinder einmal an. Nein, sie ist Bildhauerin, eine Jüdin in Deutschland, die nach dem Krieg eine gerechtere Welt errichten will und dafür ihre Kinder opfert. Sie möchte nicht gestört werden bei ihrer privaten Revolution, lieber ungarischen Rotwein schlürfen, den Steinmetz verführen und dabei geflissentlich übersehen dürfen, wie die Tochter, der Sohn siechen und versiegen.

Dieses Vergehen beschreibt Julia Franck ausgiebig bis zur Schmerzgrenze. Da schält und schuppt sich die Haut der magersüchtigen Ella. Eine unbehandelte Gürtelrose bringt Thomas fast zu Tode. In einer Szene hängt und hängt in Ellas Wimpern das Sperma ihres Vergewaltigers. Thomas muss seiner Mutter im ungeheizten Atelier stundenlang nackt Modell stehen und sich dabei ihre herzlosen Ansichten über ihn anhören. Dann wieder hungern und frieren Thomas und Ella: Die Geschwister sind allein in der Künstlervilla am Ostberliner Stadtrand. Die Mutter ist fort nach Leuna, um den Sozialismus aufzubauen; sie hat die Heizung abgedreht und den Kohlenkeller abgeschlossen … erst Tage später wird sie zurückkommen. Unerträglich, wie gesagt.

Und doch. Und doch legt man das Buch nicht fort. Man liest es, fasziniert und angewidert von dem Bösen, das den Kindern wiederfährt. Weil Franck hier etwas überhöht beschreibt, das jeder kennt: Schaudern. Verlassen fühlen. Böses-Kind-Sein. Wer sich selbst nicht vergessen hat, wer noch weiß, welches Kind man war - den nimmt Julia Franck mit hinab in verschüttete Seelenschächte. Sie tut das ohne Scheu in sehr bildhafter Sprache, in Wettern und Lichtern, erinnerbaren Gefühlen in einem Gewirr aus Verzweiflung und ersten Erfahrungen und Empfindungen jener Art, die man immer bei sich tragen wird. Angst, Scham, Hass, Leichtsinn. Ja, auch Sehnsucht zu sterben.

Diesen letzten Dienst schließlich erweist die Autorin ihrem Thomas. Ein Engel namens Marie taucht auf, eine Dienerin und Giftmischerin. Sie ist nicht intellektuell wie Thomas, sie ist nur traurig und gut zu ihm. Endlich. Sie darf ihn befreien von seinem Leben, darf Thomas behalten. Die anderen - die böse Käthe, die halbverrückte Ella, wir - bleiben zurück und dürfen, müssen: weiterleben.

Julia Franck: "Rücken an Rücken". Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 384 Seiten, 19,95 Euro

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2 Kommentare

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  • HB
    Hans-Jürgen Bracker

    Meine Güte. Käthe ist nicht Inge Hunzinger, das Buch ist ein Roman. Niemand wird denunziert. Die Fiktion bedient sich gewisser Züge von real existiert habenden (bzw. noch existierenden) Menschen. So what!? Darf eine Autorin nicht den Stoff künstlerisch be- und verarbeiten, den sie mit ihrer Familiengeschichte in die Wiege gelegt bekommen hat?

  • HL
    Heiner Legewie

    Eine befremdende Rezension. Ist es eine Buchbesprechung oder eine Anklage gegen das Unrecht an Kindern "Geopfert, um eine bessere Welt zu errichten", wie das begleitende Bild zweier "KInder, DDR, zur Zeit des Mauerbaus" suggeriert. Unbefriedigend bleibt vor allem, dass laut Anja Maier die Autorin zwar nur wenig verfremdet die Geschichte ihrer Mutter, ihres Onkels und ihrer Großmutter beschreibt, aber kein Wort darüber verliert, was es bedeutet, dass in diesem Roman die bedeutende Berliner Bildhauerin Ingeborg Hunzinger (u.a. Block der Frauen, Skulptur in der Berliner Rosenstraße zum Gedenken an den Rosenstraßen-Protestals) als ein Monster an Gefühlskäte und Sadismus dargestellt wird: Fiktion? Enthüllngsroman?