Neuer Roman von Haruki Murakami: Auch Einhörner müssen sterben
Haruki Murakami beendet sein vor vierzig Jahren begonnenes Werk. „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ handelt von unvollendeter Liebe.
Es ist nicht einfach, sich ein Bild von einem Ich-Erzähler zu machen, der uns nicht einmal seinen Namen verrät. So sind sie bei Haruki Murakami oft: männlich, gebildet und namenlos und oft mit Eigenschaften versehen (zum Beispiel einer gewissen Jazz-Affinität), die ihr Autor dem eigenen Leben entnommen und seinen Figuren ver- oder geliehen hat, Realität und Fiktion von vornherein verwebend und den Übergang von der einen in die andere Ebene verschleiernd.
Dieses gegenseitige Durchdringen verschiedener möglicher Welten ist nicht nur ein typisches Verfahren bei Murakami; gleichzeitig ist es – neben einer unvollendeten Liebesgeschichte – auch das hauptsächliche Thema in seinem neuen Roman. Der Autor schrieb ihn zu einem großen Teil während der Coronakrise.
Das erläutert er in einem seltenen Nachwort zum Buch und erklärt, dass er mit „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ eine Erzählung fortgesetzt habe, die vierzig Jahre zuvor geschrieben worden sei. Was als Frühwerk liegen blieb, ist nun als Alterswerk (der Autor ist mittlerweile immerhin 75) vollendet worden.
Der erste Teil des Romans, also die ursprüngliche Erzählung, ist, ungewöhnlich genug, in Du-Form gehalten. Der Erzähler spricht ein Mädchen an, in das er sich verliebt hat, als er siebzehn Jahre alt war und sie sechzehn. Die Teenager lernen sich bei der Preisverleihung für einen Aufsatzwettbewerb kennen. Sie wohnen an verschiedenen Orten, sehen sich daher nicht oft, aber regelmäßig, und überbrücken die dazwischen liegenden Zeiten mit langen Briefen.
Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag, Köln 2024. 640 Seiten, 34 Euro
Bei einem ihrer Treffen erzählt das Mädchen (auch sie bleibt namenlos) erstmals von „der Stadt“: Eigentlich, sagt sie, sei das, was der Junge vor sich sehe, nur ihr Schatten. Ihr eigentliches Ich lebe in jener Stadt. Sie arbeite dort in einer Bibliothek, in der die Träume der Menschen aufbewahrt würden. Auch der Junge könne, wenn er wolle, in die Stadt kommen, denn er habe die Fähigkeit, diese Träume zu lesen.
Der Schatten in der realen Welt
Gemeinsam schmücken sie die Stadt in ihrer Fantasie immer weiter aus, und der Junge schreibt alles auf. Bald darauf verschwindet das Mädchen spurlos aus seinem Leben. Und ehe er sich’s versieht, findet auch er sich in jene Stadt versetzt, wird zum Traumleser in der Bibliothek und trifft das wahre Ich des Mädchens, das ihn aber nicht wiedererkennen kann, da es ja nur ihr Schatten war, der in der realen Welt lebte.
Der weitaus längere Rest des Romans spielt dreißig Jahre später und erweitert die Erzählung um mehrere Ebenen. Der Erzähler, längst zurück in der „echten“ Welt, ist inzwischen Mitte vierzig, hält sein Tokioter Angestelltendasein nicht mehr aus und zieht in einen entlegenen Ort in den Bergen, um die dortige kleine Bibliothek zu leiten. Sein Vorgänger auf diesem Posten, ein Herr Mitte siebzig, sucht ihn häufig auf, um längere Gespräche zu führen.
Im weiteren Verlauf wird eine Frau eine (Neben-)Rolle spielen, mit der es zu einer sachten romantischen Annäherung kommt, sowie ein außergewöhnlicher Junge von sechzehn Jahren, den der Erzähler nach dem Aufdruck auf dem Shirt, das er trägt, immer nur den „Yellow-Submarine-Jungen“ nennt. Irgendwann aber stellt sich heraus, dass auch in dieser überschaubaren, beschaulichen Welt längst nicht alles so ist, wie es scheint …
„Realistische“ Erzählelemente und solche, die als Symbole oder Metaphern zu deuten wären, sind nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Der Autor selbst hat eine Verständnishilfe für diese Verfahrensweise in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ eingebaut, indem er seine Romanfiguren über „magischen Realismus“ – es fällt explizit der Begriff – sinnieren lässt und eine geradezu programmatische Szene aus einem Roman von Gabriel García Márquez zitiert, in der vorgeführt wird, wie zwei Wahrnehmungsebenen miteinander verschmelzen.
Kontext der Weltliteratur
Dass der Autor einen solchen Meta-Diskurs für nötig zu halten scheint, ist recht eigentümlich und mutet fast so an, als habe er das Gefühl, bisher oft nicht ganz richtig rezipiert worden zu sein, und als melde er damit auch seinen Anspruch an, unbedingt im internationalen Kontext der „Weltliteratur“ verstanden zu werden.
Da ist es fast zu schön, um Zufall zu sein, dass fast zur selben Zeit, da Murakamis Roman auf den Tischen der deutschen Buchhandlungen landet, Hayao Miyazakis Animationsfilm „Der Junge und der Reiher“ auf die Leinwände der hiesigen Kinos gekommen ist. Durch die gleichzeitige Rezeption beider Werke werden Parallelen sichtbar, die deutlich machen, dass Murakamis Schreiben bei aller Weltläufigkeit eben auch sehr japanisch ist.
In der Welt der Anime-Filme, die mit ihren vielen Subgenres ein weites Feld zwischen Pop- und Hochkultur bilden, ist der Übergang der realen Welt ins Irreale beziehungsweise Surreale geradezu standardmäßig fließend. Und wenn man in diesem speziellen Fall Murakamis Buch und Miyazakis Film nebeneinander betrachtet, so ist den beiden Werken als zentrales Element gemeinsam, dass grundlegende Fragen und Leiden des Menschseins – Liebe und Tod, Einsamkeit und Verlust – über eine magische Fantasiewelt verhandelt werden.
Bei Miyazaki geschieht das durch eine action- und figurenreiche Handlung, bei Murakami geht es eher meditativ zu. Aber auch viele Bilder, die er im Roman verwendet, lassen Anklänge an populäre Anime- oder Comic-Ästhetik erkennen. Ein besonders auffälliges Beispiel dafür sind die Einhörner, die in der Stadt mit der wandelbaren Mauer leben. Aber was bedeuten sie eigentlich, und wofür steht diese ganze imaginäre Welt? Ihre Symbolik scheint eingängig genug, ist aber nicht letztgültig aufzuschlüsseln.
Eine Traurigkeit, die auch tröstet
Ebenso wie die magischen Welten in „Der Junge und der Reiher“ bleibt Murakamis imaginäre Stadt und alles, was darin ist, für viele Interpretationen offen und nicht in eindeutige Begriffe übersetzbar. Im Übrigen ist die Stadt keine, in der unsereins gern dauerhaft leben würde. In ihrer Bibliothek gibt es keine Bücher, ihre menschlichen Einwohner essen nur eine Mahlzeit am Tag, die Winter sind fürchterlich, und die Einhörner sterben massenhaft an Kälte und Unterernährung.
Zu schreiben, dass dies ein zutiefst melancholischer Roman ist, wäre fast untertrieben. Die Visionen des menschlichen Daseins, die er bietet, sind, bei Lichte betrachtet, reichlich deprimierend: Jeder und jede lebt einsam für sich dahin, erfüllte Liebe ist nirgendwo zu finden, und gut reden lässt es sich nur mit den Toten. Aber gleichzeitig wohnt auch diesem Buch jene verlässliche, seltsame Murakami-Magie inne, die bewirkt, dass seine tiefe Traurigkeit paradoxerweise gleichzeitig auch tröstlich schön ist.
Das ist natürlich nicht zuletzt das Verdienst der Übersetzerin Ursula Gräfe, die seit vielen Jahren die coole erzählerische Gelassenheit des Murakami-Sounds ins Deutsche bringt.
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