Neuer Roman von Christian Kracht: Selbstporträt im Ökopulli

Der Schriftsteller Christian Kracht bricht aus dem Rad des Missbrauchs aus und testet erzählerische Grenzen. „Eurotrash“ ist seine Familiengeschichte.

Küstenstraße am Thunersee in der Schweiz

Kurvenreiche Küstenstraße am Thunersee in der Schweiz Foto: Mario Widmer/Eye Em/getty images

Wer den neuen Roman von Christian Kracht gelesen hat, hat viel zu erzählen, das schon.

„Eurotrash“ beginnt furios, wie eine Dämonenaustreibung oder als gäbe es für diesen Erzähler einiges nachzuholen. Auf gerade einmal vierzig Seiten bringt Kracht die Nazivergangenheit auf der Großvaterseite des Ich-Erzählers unter („Parteimitglied seit 1928“), die Aufstiegs- und Lügengeschichten des Vaters als erfolgreicher Manager bei Axel Springer, die fortwährende Vergewaltigung der Mutter als Elfjährige nach ihrer Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs ins schleswig-holsteinische Itzehoe sowie die Erwähnung des Missbrauchs am Erzähler selbst, auch im Alter von elf Jahren, als er auf einem Internat in Kanada war.

Die Abrechnung mit der Familiengeschichte des Erzählers – die mit dem realen Hintergrund des Autors Christian Kracht viele Berührungspunkte aufweist – ist also mit der Offenlegung von Traumata verknüpft, sie registriert schlimme Kontinuitäten von der Nazizeit bis in die eigene Jugend des Erzählers hinein, und, man kann es gar nicht anders sagen, sie ist heftig.

Hochstapelei und Erniedrigung

„Dass meine Kindheit und Jugend durchdrungen war von Angeberei und Übertreibung und Hochstapelei und Erniedrigung“, heißt es in einem Thomas-Bernhard-haften Duktus an einer Stelle. Woanders werden „die Mecki-Bücher“ erwähnt, jene drolligen Igel-Zeichnungen, „in denen sich dann die gesamte SS-Rassenlehre mit einer himmelschreienden Kleinbürgerlichkeit paarte“.

Christian Kracht: „Eurotrash“, Kiepenheuer&Witsch Verlag Köln 2021, 210 Seiten, 22 Euro

Wir befinden uns jetzt am Ende des ersten Viertels dieses Romans – der danach in eine stellenweise lustige, stellenweise auch schlicht traditionelle Road-Novel mit alkoholkranker dementer Mutter im Taxi durch die Schweiz kippt. Von der Abrechnung mit der Familie wird nichts zurückgenommen. Aber sie wird eingebaut in und überformt durch diese Geschichte zwischen Mutter und Sohn, die im Fortgang dunkel märchenhafte Züge annimmt und eine Leichtigkeit teilweise tatsächlich entwickelt, teilweise aber auch nur entwickeln soll.

Die Szene, in der der Roman kippt, lohnt sich genau anzusehen. Es ist die Szene im dritten Kapitel, der Ich-Erzähler besucht, wie er es alle zwei Monate macht, seine Mutter in Zürich. Das „silbern gerahmte Foto von mir als siebenundzwanzigjährigem Faserland-Autor in Barbourjacke“ steht im Salon, gleich zu Beginn hatte sich der Erzähler als Verfasser dieses inzwischen nahezu klassischen Romans vorgestellt.

Christian Kracht

Schriftsteller Christian Kracht 2018 Foto: Lecher/Goethe-Universität

Bye bye Barbourjacke

Nun sitzt er seiner Mutter aber in einem kratzigen Ökopullover gegenüber, den er gerade zuvor am Verkaufsstand einer Kommune gekauft hatte. Der Ökopullover wird in diesem Roman nicht so gut wegkommen, aber immerhin: Von Markenfetischismus kann in diesem Buch keine Rede sein. Über die Mutter heißt es in der Szene: „Sie saß in ihrer Wohnung wie Miss Havisham aus Große Erwartungen, gefangen in einem Spinnennetz aus Ressentiments, Wut und Einsamkeit. In diesem Augenblick wußte ich, daß es alles jetzt exakt entweder so weitergehen würde bis zu ihrem Tod oder daß ich jetzt, nur jetzt, genau jetzt in diesem Moment ausbrechen könnte aus dem Kreis des Mißbrauchs, aus dem großen Feuerrad, aus dem sich drehenden Hakenkreuz.“

Aufbruch also. Aber wohin? Die Fahrt im Taxi wird Mutter und Sohn erst zu einer Bank führen, wo sie 600.000 Schweizer Franken abheben, dann zur Öko-Kommune, von der der Erzähler den kratzenden Pullover gekauft hat und die sich allerdings als Nazi-Refugium herausstellt, zu einem Provinzflughafen, wo ihnen in einem slapstickhaften Showdown fast das Geld gestohlen wird, hinauf auf einen Berggipfel, in eine steckenbleibende Gondel eines Lifts, ans Grab von Borges und schließlich zu einem bittersüßen Abschied.

Beginnen aber wird die Fahrt mit einem knappen Dialog, den man, dafür sorgt Christian Kracht stellenweise überdeutlich, beim Lesen im Hinterkopf behält. „Erzähl mir doch etwas“, bittet die Mutter. „Wahrheit oder Fiktion?“, fragt der Erzähler. „Das ist mir egal. Entscheide du“, sagt die Mutter. Es ist ein Aufbruch ins Erzählen, das der Roman hier behauptet, bei allen Realien, die er dabei transportiert.

Hermeneutische Maschinerie

Als Christian Kracht in seiner Frankfurter Poetikvorlesungen – und auf dem Höhepunkt der #MeToo-Debatten – den Missbrauch an ihm selbst eben als elfjährigem Schüler eines kanadischen Internats offenbarte und auch offenlegte, dass seine Familie darauf nicht adäquat reagieren konnte, war die Aufregung groß. Das ging bis hin zur Frage, ob man die bei diesem Autor längst angelaufene akademische hermeneutische Maschinerie (kaum ein Gegenwartsautor wird literaturwissenschaftlich so dechiffriert wie er) nicht doch auf biografische Motive umstellen sollte. Zumal Kracht selbst anmerkte, dass sein Schrei­ben von dem Missbrauch geprägt sei.

Auf diese Frage gibt nicht nur dieser Dialog zwischen Mutter und Sohn, sondern im Grunde der ganze Roman nun eine literarische Antwort. Wahrheit oder Fiktion – egal, Hauptsache Erzählen. Der „Kreis des Mißbrauchs“ ist zwar da, aber er soll das Erzählen nicht bestimmen. Das Erzählen soll siegen und selbst so eine Abrechnung mit der Familie, wie Krachts Protagonist sie hier vorlegt, leicht machen.

Dabei geht Kracht mit dieser Abrechnung überraschend weit. Die Nachkriegswelt des erfolgreichen Vaters inklusive all seiner Chalets, seiner Kunstsammlungen und seines Snobismus steht nackt da. Der Erzähler fragt sich, ob das gesamte Umfeld seiner Familie sich von der Erniedrigung anderer nährte, „von einem Elitenbewußtsein, das in Wirklichkeit das Gebaren einer Mittelschicht war, die in die Oberschicht hinaufwollte und gleichzeitig vor nichts mehr Angst hatte als vor ihrer eigenen proletarischen Herkunft“.

Betrunkener Ringkampf

Im Zuge dieser Abrechnung wirkt auch der Christian Kracht der „Faserland“-Zeit inklusive solcher Anekdoten wie des betrunkenen Ringkampfs mit den Leibwächtern von Joschka Fischer auf der Verlagsparty von Kiepenheuer & Witsch wie entzaubert. Bis zu dem Punkt, an dem man ihn vor sich selbst in Schutz nehmen will. Als die Mutter ihm auf den Kopf zusagt, er solle lieber mal so schreiben wie Marcel Beyer, ist das lustig. Dass der Erzähler mit Daniel Kehlmann verwechselt wird, auch noch. Als später aber solche Namen wie Houellebecq, Knausgard, Sebald und Ransmayr ins Spiel kommen, erscheint einem der Witz schon totgeritten.

Mal sehen, was die Kracht-Dechiffriersyndikate so alles an Spiegelungen und Anspielungen herausfinden, aber festhalten lässt sich erst mal, dass der Versuch, durch das Erzählen eine spielerische Leichtigkeit zu behalten (und der Markenerzähler Christian Kracht zu bleiben), alles in allem eher wechselhafte Ergebnisse zeigt. Die Wandlung der ressentimentgeladenen alten Frau zur streckenweise sympathischen Mutterfigur mit eigenem Witz vollzieht sich jedenfalls allzu schnell.

Und es sind oft zu deutliche Bilder, die Kracht hier findet. Als der Sohn, der bis dahin vom künstlichen Darmausgang der Mutter nichts wusste, den Kotbeutel zum ersten Mal wechseln soll, ist das noch ein Schock. Doch schon bald geht dieser Vorgang zügig von der Hand, was dann doch eher dem gedrängten Ablaufs des Romans als einer realistisch anmutenden Durchdringung von Schamgefühlen geschuldet ist.

Wechselseitiges Lächeln

Die Dramaturgie einer Road-Novel hat sowieso etwas Versöhnlerisches, sie setzt sich letztlich durch. Das betrifft auch die Gespräche der beiden. Während in Faserland alle wörtliche Rede noch indirekt wiedergegeben war, löst sich die Handlung in „Eurotrash“ im letzten Viertel ganz in Dialoge auf, und irgendwann münden diese Dispute wiederum in ein wechselseitiges Lächeln.

Ein komplizenhaftes Fazit wird gezogen. Von ihrem Sohn schließlich darauf angesprochen, warum sie ihre Eltern nie mit ihrer Nazivergangenheit konfrontiert hat, sagt die Mutter: „Du siehst ja an uns beiden, wie schwierig es ist, nein, wie unmöglich es ist, seine eigenen Eltern mit der Wahrheit zu konfrontieren.“ Und er fragt: „Und hast du ihnen jemals verziehen?“ – „,Nein', antwortete sie.“

Das ist klar und deutlich. Aber bis zum Heraustreten aus dem Kreis des Missbrauchs bedürfte es noch einiger erzählerischer Schritte, vor denen der Erzähler aber geradezu zurückschreckt: „Ich schwieg einfach lieber, wie alle immer geschwiegen hatten in meiner Familie, wie alle lieber alles heruntergeschluckt und verborgen und geheimgehalten hatten, ein ganzes totes, blindes, grausames Jahrhundert lang.“

Und vor allem: Der Dialog kommt einem auch forciert vor, Christian Kracht hat sich zuwenig Zeit gelassen, um ihn vorzubereiten, psychologische Feinmalerei ist seine Sache sowieso nicht, und die Kombination aus harter Abrechnung, selbstironischem metafiktionalen Spiel und On-the-road-Slapstick geht nicht auf.

Die Stelle in „Faserland“, in der der Ich-Erzähler von einem einsamen Leben mit Kindern auf einer Hütte in den Bergen fantasiert, kann einem einfallen. Der Erzähler träumt da: „Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr.“ Die Kinder können es ja nicht überprüfen. „Euro­trash“ ist der Versuch, das Ausbrechen aus dem Kreis des Missbrauchs erzählerisch wahrzumachen. Christian Kracht geht darin erstaunlich weit, testet dabei seine erzählerischen Grenzen aus. Und stößt letztendlich an sie.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.