Neuer Roman von Ana Marwan: Wie die Fäden eines Kokons
Das Schillern, bevor die Ich-Panzerung einsetzt. Ana Marwan hat einen überzeugenden Coming-of-Age-Roman geschrieben: „Verpuppt“.
Glücklich jene, die auf dem Weg zum Erwachsenenstatus nicht verrückt werden. Rückblickend wundert man sich ja doch, dass man durch diese Übergangsphase halbwegs heil durchgekommen ist – besteht sie doch aus weit mehr als Pickel, Stimmbruch, Brüsten.
Es ist die Phase, in der Ich-Sagen zum ersten Mal existenzielle Bedeutung kriegt, weil man den richtigen Abzweig wählen soll, der nicht in die Sackgasse oder den Abgrund, sondern auf eine pittoreske Panoramastraße oder die Überholspur einer Autobahn führt. Doch woher soll man wissen, wer man ist, was man werden und wie das gehen soll?
Ana Marwans Roman „Verpuppt“ handelt von dieser Phase. Der Buchtitel spielt auf den Kern der Erzählung an: der Prozess der Häutung, in dem sich die eher unansehnliche Puppe im Kokon befindet, bevor aus ihr ein Schmetterling wird. Im Zentrum von Marwans Erzählung steht Rita, eine Teenagerin, deren Mutter mutmaßlich von der blühenden Fantasie und dem eigenwilligen Wesen ihrer Tochter überfordert war und sie in die geschlossene Psychiatrie einweisen ließ.
Als Rita den etwa 30 Jahre älteren Herrn Jež kennenlernt, meint sie, endlich einen Geistesverwandten gefunden zu haben: Herr Jež sei so wie sie eher eine Kutsche oder eine Eisenbahn und kein Flugzeug, wie ihre einzige Freundin Anja.
Doppelmoral und Flachzangen
Tatsächlich ist Herr Jež einer, der wie Rita mit seiner Mutter Probleme hat, der gern mit Sprache spielt, Bücher liest und die Doppelmoral und die intellektuelle Flachzangenhaftigkeit hinter den Gesten des Bürgertums durchschaut. Und er ist jemand, der Rita durchschaut. Jedenfalls glaubt das Rita. Dass Herr Jež der einzige ist, der versteht, was in ihr drinnen los ist, wahrscheinlich, weil bei ihm drinnen das gleiche los ist.
Ana Marwan: „Verpuppt“. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Otto Müller Verlag, Salzburg 2023, 220 Seiten, 24 Euro
Manifest wird diese Parallele darin, dass Herr Jež von Rita denkt, sie sei ein Same, von dem noch nicht klar ist, ob aus ihm eine Primel oder ein Veilchen wird. Und Rita denkt von sich, dass sie „ein Wesen ist, das sich im Kreis ihrer Metamorphose im Ruhestadium befindet“, sie sei noch „vor allen Eigenschaften, vor dem Charakter, die Puppe einer Fliege, der Same eines Veilchens“.
Was cheesy und schlüpfrig klingt, ist von der Autorin beabsichtigtes Glatteis. Thematisiert wird das „letztes Tabu“: das ganz normale Verhältnis zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann. Zwar fragt sich der Herr Jež, wie er sich verhalten soll, als er Rita in seinem XL-T-Shirt auf seiner Couch mit gespreizten Beinen sitzen sieht. Aber noch bevor er entscheiden kann, was jetzt das Richtige ist, steht eine Bekannte im Türrahmen und verurteilt ihn, das junge Mädchen verführt zu haben.
Leichtigkeit und Sprachwitz
Die große Frage des Romans: Wer ist der Herr Jež? Gibt es ihn wirklich, oder hat sich Rita ihn nur ausgedacht? Ist der Herr Jež das Alter ego von Rita? Und wer ist überhaupt Rita? Heißt sie eigentlich Julia und sitzt gar nicht in der Psychiatrie, sondern arbeitet „im Ministerium“, Abteilung Raumfahrt? Ist der Roman das Ergebnis einer medizinischen Schreibtherapie? Oder die frivolen Tagebucheinträge eines überdurchschnittlich intelligenten Teenagers?
Lange Zeit sind die Fäden des Romans so verworren wie die eines Kokons. Die fortlaufende Erzählung ist durch kursive Passagen mit unklarem Erzähler unterbrochen. Fast will man den Roman schon als anstrengend zur Seite legen, aber die Autorin Ana Marwan weiß genau, wie sie mit Erwartungen und Enttäuschungen spielt, und fängt mit Leichtigkeit, Ironie, und Sprachwitz die Aufmerksamkeit wieder ein, die sie gerade zu verspielen drohte.
Mit ihren Kokonfäden, die sie um die Puppe Rita windet, bildet die slowenische Schriftstellerin den verworrenen Prozess des Ich- oder Überhaupt-wer-Werdens ab. Und das ziemlich eindrucksvoll. Sodass selbst in der Übersetzung von Klaus Detlef Olof dem Spaß am Jonglieren mit Wörtern kaum etwas verloren gegangen zu sein scheint.
Jež bedeutet im Slowenischen übrigens Igel. Wenn der Igel Angst hat, rollt er sich bekanntlich ein und ist von außen nur als Bündel von Stacheln wahrzunehmen. Sein Inneres hält er bedeckt. So wie die meisten Menschen, die sich einen Panzer oder eine Schutzhülle umlegen, um von außen nichts an sich ranzulassen und ihr Inneres nicht preiszugeben. So einen Panzer hat Rita nicht. Und man kann Ana Marwans Roman so verstehen, dass das eigentlich ein Zustand ist, den man durchaus mal ausprobieren sollte.
Gastland Slowenien
Mit einem anderen Tier, das einen Panzer hat und mit seinem Äußeren spielt, um das Innere zu schützen, hat Ana Marwan im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewonnen: „Wechselkröte“ hieß ihr Text, den sie auf Deutsch schrieb. Die in Ljubljana geborene Schriftstellerin lebt seit einiger Zeit in Österreich, wo sie kürzlich die Leitung der Zeitschrift Literatur und Kritik von Karl-Markus Gauß übernommen hat. Der nun erstmals auf Deutsch erschienene Roman „Verpuppt“ wurde 2021 in Slowenien zum Buch des Jahres gekürt.
Im Oktober wird Slowenien Gastland der Frankfurter Buchmesse sein. Noch ist die slowenische Literatur für viele nur eine Puppe in der europäischen Romanlandschaft. Dass aus ihr aber keine Eintagsfliege wird, sondern ein Schmetterling, dafür stehen unter anderem die Texte von Ana Marwan.
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