Neuer Radsportstar bei Vuelta in Spanien: Offline auf der Straße
Mit zwei Etappensiegen überrascht Jay Vine bei der Spanienrundfahrt. Bis vor kurzem radelte der Australier nur auf Rollen im eigenen Wohnzimmer.
Die Vuelta hat einen neuen Star. Er heißt nicht Remco Evenepoel, selbst wenn der Belgier sich bei der ersten Bergankunft der Rundfahrt das rote Trikot des Gesamtführenden sicherte und gegenwärtig wie der stärkste der Klassementfahrer wirkt. Star der Rundfahrt ist auch nicht der dreifache Vuelta-Sieger Primož Roglič, der im Baskenland mal kurz in Rot schlüpfte, das Leibchen dann aber an Ausreißer abgab und jetzt dem Ex-Fußballer Evenepoel hinterherfahren muss.
Nein, der neue Star heißt Jay Vine. Zwei Bergetappen gewann der Australier binnen drei Tagen. Einmal setzte er sich kurz entschlossen aus dem Favoritenfeld zehn Kilometer vor dem Ziel ab. Das zweite Mal schlug er aus einer Fluchtgruppe heraus zu. Der Beste der Besten, der Beste der Mutigen – welch eine Performance.
Sie ist umso erstaunlicher, weil der 26-jährige Vine noch nicht lange beim Straßenradsport dabei ist. Vor zwei Jahren fuhr der Australier noch in seinem wohltemperierten Wohnzimmer, einen Monitor vor der Nase und einen schwarzen Teppich unter sich, auf dem er seinen Rollentrainer installiert hatte. So setzte er sich im fernen Pandemiejahr 2020 gegen 130.000 ebenfalls im Wohnzimmer oder der Garage radelnde Amateure in der Zwift Academy durch. Das bescherte ihm einen Profivertrag beim Team Alpecin-Fenix um Superstar Mathieu van der Poel. Seine Wattwerte überzeugten.
Anderthalb Jahre später legte er nach, wurde 2022 E-Sports-Weltmeister der UCI, entthronte dabei auch den deutschen Online-Weltmeister von 2020, Jason Osborne. Inzwischen fahren beide beim gleichen Rennstall, Alpecin-Deceuninck. Vine hat den Umstieg vom statischen Indoor-Radler zum Draußen-Athleten inmitten eines Pelotons ehrgeiziger Berufsradfahrer aber schneller hinbekommen als sein Weltmeister-Vorgänger. Gut, Osborne ist auch noch Ruderer, holte im letzten Jahr Olympiasilber im Leichtgewichtszweier.
Gelungener Wechsel
Wie gut Vine die Transformation gelang, verblüfft aber selbst Fachleute. „Es war spektakulär, wie er gewann. Klar, er tritt enorme Wattzahlen. Aber um zu gewinnen, muss er auch wissen, wie man sich im Peloton bewegt, wie man gut durch die Abfahrten kommt und wie man es schafft, ganz vorn schon unten am Berg zu sein“, erklärte Oliver Cookson, sportlicher Leiter von Ineos Grenadiers. Der Brite mochte mit einer Spur von Neid beobachtet haben, wie Vine kaum die Augen vom Wattmesser ließ und stoisch sein Tempo fuhr. Cooksons Rennstall perfektionierte einst als Team Sky das Fahren nach (Watt-)Zahlen. Jetzt aber erwies sich dieser Australier als absoluter Meister dieser Disziplin.
Vine hatte sich seinen doppelten Coup gut zurechtgelegt. „An beiden Tagen war es eine Höchstbelastung über etwa 25 Minuten am letzten Berg. Darauf habe ich mich konzentriert“, erklärte er. Eigentlich wollte er sowohl bei der sechsten wie bei der achten Etappe aus der Fluchtgruppe heraus attackieren. Auf der sechsten Etappe verpasste er die Gruppe zwar. Weil genau zu jenem Zeitpunkt, bei dem er antreten wollte, etwa zehn Kilometer vor dem Ziel, im Hauptfeld aber ein kurzer Moment der Unentschlossenheit herrschte, konnte er den ursprünglichen Plan dennoch umsetzen. „Das ist unglaublich, dass mir das gelang. Klar, es war der Plan vom Team, dass ich an der Stelle antreten sollte, aber dass ich dann auch von der Gruppe der Favoriten davonkam, fühlt sich für mich fast unreal an“, sagte Vine später.
Zwei Tage danach, am Colláu Fancuaya, wiederholte er dieses Kunststück. Dort war er in der Fluchtgruppe und sammelte unterwegs noch Punkte für das Bergtrikot. „Die anderen schienen sich nicht so sehr dafür zu interessieren. Es war mein Plan B, das Bergtrikot zu holen, sollte es mit dem Etappensieg nicht klappen“, erzählte er. Er holte sich beides, Etappensieg und Führung in der Bergwertung. Wehe der Konkurrenz, wenn er mal ausbaldowert, mit welchen Belastungen zu welchem Zeitpunkt eine Grand Tour zu gewinnen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste