Neuer Politikertypus: Vielleicht ein bisschen Schamgefühl? Nö
US-Präsident Trump ist zum Modell für eine ganze Generation extrem Rechter geworden. Völlige Scham- und Schrankenlosigkeit zeichnet ihr Handeln aus.
D as Interessanteste an „Hybris“, dem Buch über Joe Bidens vertuschten körperlichen Verfall, war, dass es – wie die taz geschrieben hat – gewirkt hat: als Enthüllungsbuch, das eine verborgene Wahrheit ans Licht bringt. Während die Dutzenden Aufdeckungsbücher über Donald Trump hingegen völlig wirkungslos waren. Sie verpufften einfach. Denn all das, was sie enthüllen, wurde ja völlig offen vollzogen.
Trump ist damit längst zu einem Modell für diese Generation von extremen Rechten geworden. Die Generation der Populisten davor hat ihr Tun in vielerlei Hinsicht noch verheimlicht. Man denke etwa an Jörg Haider, den österreichischen Urvater der neuen Rechten. Dieser operierte noch mit Verleugnung. Nunmehr aber folgen alle dem Trump-Modell. Von Israels Benjamin Netanjahu bis zum neuen polnischen Präsidenten: kein Verhüllen mehr.
Egal wie moralisch fragwürdig ihr Tun ist, sie vollziehen es in aller Offenheit. Einen neuen, nie da gewesenen Politikertypus nennt das die Soziologin Eva Illouz. Ein Typus, der eine radikale Gleichgültigkeit sowohl gegen moralischen Anstand als auch gegen den äußeren Anschein aufweise.
Unverhüllter Egoismus
Dieser Typus beleidigt und erniedrigt ebenso unumwunden (siehe den Besuch von Selenskij im Oval Office) wie er lügt (siehe die Genozidvorwürfe an den südafrikanischen Präsidenten ebenda). Er lebt seinen Egoismus völlig unverhüllt aus. Ebenso wie seine Korruption – ob er nun unverhohlen an seiner eigenen Kryptowährung verdient oder Flugzeuge und andere „Geschenke“ ungerührt entgegennimmt wie kürzlich in Katar (letzteres wird nur ob der Imposanz des Objekts nicht als Bestechung bezeichnet).
Er betreibt seine Politik als lukratives Geschäft. Er nutzt sein Amt für eine ungebührliche Bereicherung. Sein Handeln ist von einer völligen Scham- und Schrankenlosigkeit.
Es ist verführerisch, all das auf einen simplen Charakterdefekt zu reduzieren (einer, der derzeit zufälligerweise merkwürdig häufig aufzutreten scheint). Aber dieser Befund erklärt noch nicht das Verhalten ihrer Wähler. Denn es besteht kein Zweifel: Die Schamlosigkeit wirkt auf diese wie ein Faszinosum.
Sie wählen diesen Typus nicht trotz seiner Verkommenheit, sondern wegen dieser. Während die Wähler der Demokraten sich von den Vertuschungsversuchen zu Bidens Gesundheit hintergangen und verraten fühlen.
Scham und Schamlosigkeit
So kann man heute feststellen: Linke schämen sich. Grundsätzlich. Während die neuen Rechten genau dies nicht tun. Scham und Schamlosigkeit markieren somit eine politische Differenz. Ja mehr noch: Genau daran zeigt sich eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung.
Denn Scham ist eine Kulturform. Kultur ist das, was uns zivilisiert, und zugleich ist sie eine Quelle des Leidens, wie Freud gemeint hat. Von daher rührt das „Unbehagen“ an ihr.
Denn Kultur verlangt uns Triebverzicht ab. Immer wieder. Sie ist darauf aufgebaut, dass die Befriedigung der Neigungen versagt wird – aufgeschoben oder nur in veränderter Form stattfindet. Dazu muss die gesellschaftliche, die moralische Autorität verinnerlicht werden. Sie findet sich, so Freud, in unserem Über-Ich wieder. Verstößt man gegen dessen Forderungen, dann folgt die Strafe durch Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Scham.
Erosion des Über-Ichs
Wenn nun die Schamlosigkeit um sich greift. Oder wenn dieser unumwunden gehuldigt wird, so zeigt sich: Die gesellschaftliche Über-Ich-Herrschaft hat ihre Kraft eingebüßt. Sie ist erodiert. Denn auch Gesellschaften haben ein solches, ein Kultur-Über-Ich.
Das unmittelbare Ausleben seiner Neigungen wird nun gesellschaftlich akzeptiert. Wobei diese Neigungen ebenso selbstsüchtig wie aggressiv und destruktiv sein können. Das macht sie ja so gefährlich. Und dennoch ist dies eine neue Form des gesellschaftlichen und politischen Lebens.
Für die vielen ist das bestenfalls eine Sehnsucht – die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus der alten Kultur. Die Sehnsucht nach einer Befreiung. Vorbehalten bleibt diese aber Einzelnen. Diese werden dafür, dazu gewählt. Sie sollen die Triebe ihrer Wähler ausleben, stellvertretend. In aller Schamlosigkeit.
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