Neuer Film von Jean-Jacques Annaud: Von Tieren aufgegessen werden
Jean-Jacques Annauds „Der letzte Wolf“ erzählt von einer Landverschickung in die Innere Mongolei. Wölfe und Nomaden konkurrieren um Nahrung.
Wenn man nichts von Wölfen versteht, versteht man auch den Geist nomadisierender Viehzüchter nicht und noch weniger den Unterschied zwischen Nomaden und Ackerbauern. Das ist, in einen Satz gepackt, der Ausgangspunkt und das Thema von Jean-Jacques Annauds Film „Der letzte Wolf“.
Man könnte aber genauso gut das immer wiederkehrende Mantra aus Jacques Derridas letzten Seminaren über „Das Tier und der Souverän“ den ganzen Film lang vor sich hin brummen, und das geht so: „Nie den Wolf vergessen, alle Wölfe.“
Es ist nämlich ein Kunststück, das Annaud in diesem Film einfach durch ein paar Vermeidungen gelingt und das man nicht genug loben kann: Der Film bleibt zu allem, was die Bilder bestimmt, auf Distanz. Er rückt den Wölfen nicht zu nah auf den Pelz, und wenn man einen filmischen Gegenpol zu Annauds Wölfen finden will, dann ist es Werner Herzogs „Grizzly Man“, der Vollidiot als selbstermächtigter Tierversteher par excellence, der dann verständlicherweise von einem grundmissverstandenen Grizzly auch aufgegessen wird.
Um das von Tieren Aufgegessen-Werden geht es auch in Annauds Film. Die Nomaden der weiten mongolischen Graslandschaften begruben ihre Toten nicht in der Erde, sondern legten sie, nur leicht mit Steinen und Gras bedeckt, auf die Erde. Sie wollten damit ihre Körper den Wölfen zurückgeben, mit denen sie die Landschaft und teilweise auch die Nahrung wie die Taigagazellen in Konkurrenz geteilt hatten.
Nur noch Relikte in der Steppe
Und die Wölfe verzehrten die so bestatteten Verstorbenen schnell, wenn sie sie gefunden hatten. Dabei handelt es sich um ein Ritual, das natürlich nur Sinn macht, solange es Wölfe und Nomaden gibt. Wenn nur einer von beiden wegfällt, wird es sinnlos, und das dürfte der aktuelle Zustand der Steppen der Mongolei sein: Wölfe und Nomaden gibt es, wenn überhaupt, nur noch als Relikte.
Annauds Film ist damit auch ein Film über die Folgen einer unterkomplexen und abschüssigen Ökologie. Das ist, anders gesagt, der universelle und damit uninteressanteste Aspekt des Films. Denn auch wenn in der Geschichte des maoistischen China von der Kampagne zur Massentötung der Spatzen bis zur Wolfsausrottung eine komplexitätsreduzierte Ökologie zu teilweise absurdesten Maßnahmen führte, ist sie kein Alleinstellungsmerkmal Chinas. Es gab und gibt sie mit ihren Folgen überall auf der Welt, und heute wissen wahrscheinlich auch die Funktionäre der chinesischen KP, das tote, stinkende Flüsse und der aktuelle Luftstatus in Peking auf die Dauer nichts als den Tod zur Folge haben.
Interessanter wird der Film in Details, die nicht unbedingt als solche ausgestellt werden. Der Film spielt 1967, im zweiten Jahr der chinesischen Kulturrevolution, und erzählt die Geschichte von zwei jungen Intellektuellen aus Peking, Chen Zhen und Yang Ke mit Namen, die sich freiwillig zum Zivilisationsdienst bei den mongolischen Nomaden melden: Mit Büchern bepackt reisen sie ins Grasland, um den Nomaden lesen und schreiben beizubringen und mit ihnen zu arbeiten.
Im Gegensatz zum im Westen verbreiteten Bild der Kulturrevolution, hat dieser Akt der Landverschickung bei Annaud nichts mit einem Gewaltakt zu tun und endet auch nicht mit einem Massaker unter den Menschen. Im Gegenteil, die Diskussionen der Stadtintellektuellen mit den Nomaden in ihren Jurten sind bemerkenswert frei in ihrer offenen Konfrontation der nomadischen Mythen mit den modernen Lehren vom Rechnen und Schreiben.
Grundfrage der Kulturrevolution
Allerdings ist nicht zu übersehen, dass der örtliche Parteichef schwer einen an der Waffel hat und im Grunde beseitigt gehört. Der Film lässt so die Grundfrage der Kulturrevolution, was Chefs eigentlich so machen und wozu sie gut sind, erstaunlich unangetastet – beziehungsweise er aktualisiert sie unaufdringlich. Mit der gleichen Unaufdringlichkeit erzählt er auch ethnologische und ethnografische Wahrheiten, die alles andere als selbstverständlich sind.
Auf die Idee, einen jungen Wolf zu fangen und ihn mit der Hand großzuziehen, kommt nur der Intellektuelle Chen Zhen, die Nomaden taten so etwas nie. Maos Leitspruch „Studiere deine Feinde, um sie danach besser vernichten zu können“ ist ihnen auch fremd, weil sie die Wölfe nicht als Feinde, sondern als notwendige Konkurrenten ansehen, denen man besser nicht zu nah kommt. Deshalb sind sie auch gegen Chen Zhens Handaufzuchtsprogramm, dulden es aber widerwillig.
Und damit ist man mitten im wirklichen Höhepunkt dieses Films. Denn Chen Zhen wird eben durch die Aufzucht des kleinen Wolfs nicht zum Wolfsversteher, und das muss man in diesen korrupten Zeiten, in denen jeder Pfeifenhans auf dem Weg zur Entschlüsselung irgendeiner Tiersprache ist, erst einmal hinkriegen. Der heranwachsende Wolf lebt in einem Erdloch an einer schweren Kette und verliert seine Fremdheit nie. Wie Annaud überhaupt, auch wenn er ein paarmal sehr große Wolfsgesichtseinstellungen zeigt, seine Bilder nie suggerieren lässt, sie zeigten irgendwelche intimen Details aus dem Wolfsleben. Das kommt praktisch nie vor und kann nur eine Entscheidung des Regisseurs sein.
Denn Annaud, der sich sehr gut in der Verhaltensbiologie auskennt, hatte noch in seinem Tigerfilm „Zwei Brüder“ aus dem Jahr 2004 genau das getan. Die Tiger in ihren intimsten Soziallebensmomenten mit ihren Originaltönen ins Bild gerückt und damit bestimmte Aspekte ihrer innerartlichen Kommunikation überhaupt erstmals hörbar gemacht.
Kommen sie näher, wird es ungemütlich
Regie: Jean-Jacques Annaud. Mit Shaofeng Feng, Shawn Dou u. a. China/Frankreich 2015, 120 Min.
Davon gibt es hier, wie gesagt, nichts. Die Wölfe bleiben immer weit weg, und wenn sie näher kommen, wird es in der Regel ungemütlich. Sei es, weil sie die Schafe der Nomaden angreifen oder weil sie Menschen beißen und deren Wunden sich gefährlich entzünden. Um eine solche Entzündung entfaltet der Film dann einen seiner spannendsten Momente. Ein kleiner Junge ist durch einen Wolfsbiss tödlich infiziert und nur Antibiotika können ihm helfen, die gibt es aber nur in der Kilometer entfernten nächsten Stadt.
Chen Zhen macht sich reitend auf den Weg, um dann vom Apotheker zuerst nach der Bescheinigung für die Medikamente gefragt zu werden, die er natürlich nicht hat. Es kommt zum Kampf, und der Apotheker rückt die Antibiotika nur heraus, wenn er dafür Wolfsknochen, Wolfshaare und Wolfszähne bekommt. Dabei dauert die Darstellung der kognitiven Dissonanz zwischen moderner und traditioneller chinesischer Medizin nicht einmal zwei Minuten und schafft es doch, das andauernde Elend dieser Dissonanz nachhaltig wirken zu lassen.
Der Film lohnt sich schon für diese eine kurze Szene, weil er sie in einer modernen Apotheke spielen lässt und nicht in einem Nomadenzelt. Die Nomaden haben kein Problem mit den Antibiotika. Sie wissen, dass nur sie einen Wolfsbiss heilen können.
Annaud schafft es so mit einer erstaunlichen Sicherheit, das mythische Denken der Nomaden von den dumpfen Volksmetaphysiken, die die Moderne auch in ihren wissenschaftlichen Zentren nie los wurde, zu trennen, ohne zum Didaktiker zu werden.
Umso unverständlicher ist dabei nur die einzige wirkliche ästhetische Fehlentscheidung des Regisseurs, nämlich der Einsatz der Musik. Immer wenn die Wölfe sich fliehend oder jagend in Bewegung setzen, setzt sofort die Musik eines Orchesters ein, dass diese Bewegungen, jagend oder fliehend, in omnipotente Musik transzendiert.
Und das geschieht so vorhersagbar prompt, das man schreiend protestieren möchte oder nach der Tonspur greifen, um sie abzuwürgen. Jeder Orginalton hätte mehr Sinn gemacht.
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