Neuer Aufbruch in der Arbeitsforschung: Ständig in Alarmbereitschaft
Roboter und Digitalisierung reduzieren die körperlichen Belastungen am Arbeitsplatz. Der psychische Stress hingegen wird größer.
Die neuen Aufgaben der Arbeitsforschung diskutiert diese Woche in Berlin der Kongress „Arbeit in der digitalisierten Welt“ des Bundesforschungsministeriums im Rahmen der Hightech-Strategie. „Durch die digitale Transformation mit ihren Datenwelten wird die Arbeit zeitlich, räumlich und strukturell entgrenzt“, erklärte Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart. Die Arbeitsforschung müsse daher „neue Wege einer systemischen Arbeitsgestaltung“ aufzeigen. Bauer: „Sozio-technische Innovationen sind gefragt.“
Während bei der Entwicklung der „Industrie 4.0“, der voll digitalisierten Fabrik, die Forscher bisher nur mit der Unternehmerseite kooperierten, sind im neuen Forschungsprogramm auch die Beschäftigten mit von der Partie. Die Tagung wurde daher neben Forschungsministerin Johanna Wanka und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer auch vom DGB-Chef Reiner Hoffmann eröffnet. Die These des Gewerkschafters: „Die Arbeit der Zukunft wird nicht grundsätzlich von neuen Technologien beherrscht.“
Um einen eigenen Wissens-Pool aufzubauen, hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in der vergangenen Woche eine Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ gestartet. Geleitet wird sie von der Soziologin Kerstin Jürgens von der Universität Kassel und dem DGB-Vorsitzendem Reiner Hoffmann.
Die Gewerkschaftsforscher treibt die Frage um, wie in Zeiten fortschreitender Globalisierung, Digitalisierung und demografischen Wandels die „Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung der Beschäftigten besser statt schlechter werden und sich Arbeit und Leben leichter vereinbaren lassen“. Mit Organisation statt Technik, nämlich durch „eine neue Arbeitszeitpolitik“, so Soziologin Jürgens, könnte die „sich abzeichnende Krise der Reproduktion entschärft“ werden.
Nach Erhebungen der Krankenkassen sind inzwischen 14,6 Prozent des Gesamtkrankenstandes auf psychische Erkrankungen und Erschöpfung am Arbeitsplatz zurückzuführen. „Viele Beschäftigte erleben, dass sich frühere Belastungsspitzen im Arbeitsvolumen als neuer Standard erweisen und man sich ständig in Alarmbereitschaft befindet“, stellt Kerstin Jürgens fest.
Arbeiten, ohne krank zu werden
Mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement – gut gemeint – würden aber nicht die Ursachen erfasst, sondern lediglich die „Symptome von Arbeitsüberlastung und Verschleiß“. Schlimmer noch: die Entspannungsübungen setzen die Beschäftigten, so Jürgens, „unter Druck, ihre Anpassungsfähigkeit zu optimieren“. Arbeiten, ohne krank zu werden – die Arbeitsforschung muss nach neuen Wegen suchen.
In insgesamt 10 Sitzungen befasst sich die BMBF-Tagung mit sozialen und technischen Innovationen in der Industrie 4.0, dem „Digital Working und Crowd Working“ als neuen Arbeits- und Beschäftigungsformen für die Zukunft sowie der Harmonisierung von Arbeit und Privatleben in einer zunehmend digitalisierten Welt.
Thematisiert werden auch das vernetzte Lernen, die Nutzung von Gestaltungsspielräumen für Arbeit durch Automatisierung sowie die Frage, ob den „digitalen Belegschaften und digitalen Arbeitsplätzen auch eine digitale Führung“ folgen müsse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend