Neue russische Protestbewegung: Rote Nelke, weißes Kopftuch
Die Filmdoku „Put Domoi“ über eine Initiative von Soldatenfrauen zeigt gesellschaftlichen Unmut in Russland und das Ausmaß der totalitären Diktatur.
„Mein Mann spürt seine Beine nicht mehr. Er muss ins Krankenhaus. Aber nein, sie wollen ihn an der Front herrichten, damit er so schnell wie möglich aufs Neue eingesetzt werden kann. Helfen Sie mir, ihn nach Hause zu holen! Teilen Sie dieses Video“, fleht eine Frau um die 40. Eine Jüngere konstatiert: „Seit zwei Monaten habe ich keine Nachricht von meinem Mann.“
Seit wenigen Tagen kann man auf dem Youtube-Kanal des russischsprachigen Senders „Radio Svoboda – Radio Liberty“ eine Dokumentation über die russische Frauenbewegung sehen: Sie heißt „Put domoi – zurück nach Hause. Wir sind die Frauen der zum Kriegsdienst Eingezogenen“.
Im Zentrum des Films von Wladimir Sevrinovskij steht eine Aktivistin der im gesamten Land tätigen Initiative. Sie beschreibt sich und ihren Mann als unpolitisch. „Aber die Politik erreichte uns“, beklagt sie bitter, als ihr Mann im September 2022 eingezogen wurde. Bis heute ist er an der Front, obwohl man ihm im örtlichen Wehrkreiskommando versicherte, dass er höchstens sechs Monate in der Ukraine eingesetzt würde.
Alle schweigen
An dieser Diskrepanz entzündet sich der Protest von „Put domoi“. Im Frühjahr hatte sich die Protagonistin des Films schriftlich an das Verteidigungsministerium gewandt, Lokalpolitiker um Unterstützung gebeten und die Presse informiert. Als alle schwiegen, hatte sie verstanden: Ihr Anliegen ist tabu.
„Put domoi. Scheny mobilisovanich“. Regie: Wladimir Sevrinovskij (RUS 2023, 24 Minuten)
Sarkastisch erklärt sie im Film: „Offiziell sind circa 320.000 Soldaten an der Front. Denkt ihr wirklich, deren Frauen sind alle zurückgebliebene Landeier? Denkt ihr wirklich, unter ihnen ist nicht eine einzige Juristin oder Journalistin?“ Dann formiert sich seit dem Sommer vergangenen Jahres im Telegram-Kanal auch „Put domoi“.
Zunächst ging es darum, sich gegenseitig zu unterstützen in der Sorge um die Männer an der Front. Seit November ist die Gruppe auch im öffentlichen Raum sichtbar. Jeden Samstagmittag um 12.00 Uhr finden sich überall in Russland Aktivistinnen in kleinen und großen Städten jeweils in der Nähe der großen Denkmäler ein, die an die Helden im Großen Vaterländischen Krieg erinnern. Ihr Erkennungszeichen ist ein weißes Kopftuch. Sie legen rote Nelken ab, als Mahnung an ihre Männer, die sie lebend wieder sehen wollen.
Nur Floskeln von der Polizei
Das wird von Vertretern der Staatsmacht als Provokation eingestuft. So zeigt die Doku, wie Moskauer „Put domoi“-Frauen einen Polizisten anbrüllen, der sie auf dem Weg zum ewigen Feuer aufhält, dem sie ihr Anliegen schildern und der nur Floskeln parat hat. Seit Monaten liegen die Nerven blank bei den Soldatenfrauen. Ihr Protest wird stärker.
Inzwischen hat die Bewegung ein politisches Manifest veröffentlicht, das neben der Hauptforderung – sofortige Demobilisierung – auch auf die Einhaltung der Menschenrechte für Soldaten an der Front pocht. Außerdem fordern die Frauen ein durch die Verfassung garantiertes Demonstrationsrecht. Es ist ein Protest, der allmählich an Stärke gewinnt.
Gerade, weil er sich nicht aus ideologischen Differenzen speist, sondern aus dem extremen Eingriff der kriegführenden Staatsmacht in das Privatleben, kann er dem Putin-Regime gefährlich werden. „Alle wollen nach Hause. Wir können nicht mehr“, sagt Soldat Alexander in einem Video, das Mitte Dezember auf Youtube hochgeladen wurde.
Am Silvestertag kommt wieder ein Video von der Front. Soldaten danken darin „Put domoi“. Die Frauen schreiben zurück: „Wir wollen, dass ihr so schnell wie möglich nach Hause kommt. Egal, ob ihr gewonnen habt oder nicht.“ Inzwischen wurde das Video von Alexander mehr als eine halbe Million Mal geklickt. Er ist seit Kurzem verschwunden. In Russland muss man dann von Verhaftung ausgehen.[https://www.youtube.com/watch?v=2r4OathY4Kw]
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen