Aktivistin zu Antifeminismus in Russland: „Victim blaming ist verbreitet“

Die Situation für Frauen in Russland verschlechtert sich. Eine Kraft dahinter ist laut der Aktivistin Sasha Talaver die russisch-orthodoxe Kirche.

Eine Frau zwischen Frauen in historischen Uniformen

Moskau, 6. November, Feier zur Oktoberrevolution Foto: Sergei Ilnitsky/EPA

taz: Frau Talaver, die russische Regierung schränkt reproduktive Rechte von Frauen ein. Welche Regionen sind bisher betroffen?

Sasha Talaver: In der russischen Teilrepublik Mordowien und in der Oblast Twer wurden unter dem Deckmantel, Schwangere zu schützen, Gesetze erlassen, die Schwangerschaftsabbrüche verbieten. Auf der okkupierten Krim haben Privatkliniken „freiwillig“ darauf verzichtet, Abtreibungen durchzuführen. Privatkliniken in der Oblast Kursk verzichten auf medikamentöse Abtreibungen, das gilt auch für Kliniken in den Oblasten Tscheljabinsk und Tatarstan.

ist als Aktivistin Teil des feministischen Antikriegswiderstands sowie der Sozialistischen Bewegung in Russland. Sie promoviert in Gender Studies an der Central European University in Wien zu Feministischen Bewegungen in der Sowjetunion.

Wie sah das Recht auf Abtreibung in Russland bisher aus?

Die Abtreibungsgesetze in Russland waren als Erbe der Sowjetunion sehr liberal. Die Gesundheit der Frau galt stets als wichtiger als die Gesundheit des ungeborenen Kindes. In den letzten 20 Jahren wurde von verschiedenen Seiten versucht, das Recht auf Abtreibung einzuschränken. Es wurde versucht, Abtreibungswerbung zu verbieten, außerdem wurden sogenannte „Tage der Stille“ eingeführt. Das bedeutet, dass eine Frau nach dem Beratungsgespräch mit dem Arzt noch einige Tage über ihre Entscheidung nachdenken muss, bevor sie abtreiben lässt. Auch die Liste der gesundheitlichen Gründe, die eine Abtreibung möglich machten, wird immer kürzer. Seit 2022 bekommen Kliniken mehr Mittel, je mehr Frauen sie davon überzeugen konnten, keine Abtreibung durchzuführen.

Welche politischen Kräfte spielen bei der Verschärfung des Abtreibungsrechts eine Rolle?

Die treibende Kraft dahinter ist wider Erwarten nicht die russische Regierung. Selbst Wladimir Putin sagte noch 2017 aufgrund seiner sowjetischen Prägung, dass Abtreibungen auf keinen Fall verboten werden dürfen. Diejenigen, die ein Verbot von Abtreibungen fordern, sind die russisch-orthodoxe Kirche sowie andere gesellschaftliche Organisationen, wie die Stiftungen „Russische Einigkeit“ oder „Frauen für das Leben“. Erst in den letzten paar Jahren fallen diese Initiativen auf fruchtbaren Boden. Sie bekommen mehr Unterstützung, auch von regionalen Behörden, und reihen sich in das transnationale Netz religiöser, konservativer Organisationen ein.

Welche Entwicklung erwarten Sie?

Ich denke nicht, dass Abtreibungen vollends verboten werden. Man wird aber wahrscheinlich versuchen, Abtreibungen nur noch in staatlichen Krankenhäusern durchführen zu lassen. Schon jetzt kaufen Feministinnen in Russland Abtreibungs­pillen ein, um im Falle einer Verschärfung der Gesetzgebung Abhilfe leisten zu können. Der feministische Antikriegswiderstand veröffentlichte eine Petition für das Recht auf Abtreibung und verteilte Broschüren in staatlichen Geburtskliniken, um über Abtreibungen zu informieren.

Wie ist die Entwicklung im Bereich häuslicher Gewalt?

2017 wurde häusliche Gewalt, die zu keinen bleibenden Verletzungen führt, entkriminalisiert. Die feministische Bewegung hat vor dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine eine große Kampagne für eine Wiedereinführung eines Gesetzes geführt. Auch hier war die russisch-orthodoxe Kirche die treibende Kraft dagegen. Unabhängige Frauenhäuser berichten von einem Anstieg Hilfesuchender. Bei vielen dieser Fälle handelt es sich um „alte Fälle“, die nun ein Bewusstsein für häusliche Gewalt entwickelt zu haben scheinen. Das bedeutet, dass Hilfsangebote über häusliche und partnerschaftliche Gewalt immer mehr Menschen erreichen. Gleichzeitig werden viele Männer, die als Gewalttäter im Gefängnis saßen und für den Krieg in der Ukraine rekrutiert wurden, nach ihrem Einsatz begnadigt und sogar als Helden geehrt. Jetzt schon gibt es Dutzende Berichte von Kriegsrückkehrern, die ihre Partnerin oder Kinder getötet oder jemanden vergewaltigt haben. Das erzeugt eine neue Bedrohungslage für Frauen. Es gibt keine staatliche Infrastruktur und Programme zum Schutz der Frauen und auch keinen gesellschaftlichen Konsens, der häusliche Gewalt ablehnt. Victimblaming ist noch immer verbreitet, egal wie brutal ein Femizid war.

Wie ist die Situation für Frauen in der russischen Armee?

Wir haben keine genauen Zahlen, aber in den letzten Monaten gibt es vermehrt Werbung, die Frauen dazu aufruft, als Medizinerinnen oder Soldatinnen in den Krieg zu ziehen. Die russische Armee gilt als Institution hegemonialer Männlichkeit. So werden Frauen zu sexuellen Kontakten mit Vorgesetzten oder Kollegen gedrängt. Im Volksmund gelten Frauen an der Front als „Prostituierte“, denn eine Frau könne nie „rein“ von der Front zurückkehren. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg haben Partisaninnen und Rotarmistinnen ihren Einsatz oft verheimlicht, um diesen Vorurteilen zu entgehen.

Kann man davon ausgehen, dass es mehr Männer als Frauen sind, die den Krieg unterstützen?

In letzter Zeit gab es vermehrt Initiativen von Frauen, die forderten, ihre Männer von der Front heimkehren zu lassen. Viele dieser Bewegungen lehnen jedoch weder den Krieg noch Putins Regime ab. Laut einer Studie von Russian Field Ende Oktober 2023 sind 57 Prozent der Frauen in Russland für Friedensverhandlungen, während es bei den Männern nur 37 Prozent sind. 83 Prozent der Frauen würden Putin unterstützen, wenn er einen Friedensvertrag unterschreiben würde.

Welche Konsequenzen drohen Feministinnen für ihren Aktivismus?

Feministinnen in Russland werden seit Jahren von Bewegungen wie „Männlicher Staat“ attackiert. Gleichzeitig nehmen auch die Diskussionen von staatlicher Seite um die Einstufung von Feminismus ähnlich wie der LGBT-Bewegung als Extremismus oder westliche Ideologie zu. Der feministische Antikriegswiderstand wurde vom russischen Staat zum ausländischen Agenten erklärt. Gegen einige Aktivistinnen wurden Verfahren eröffnet, die meisten konnten aus Russland fliehen. Diejenigen, die in Russland verbleiben, operieren anonym. Doch die reale Teilnahme von Frauen an Lohnarbeit und Politik hat in dieser Gesellschaft seit etwa 100 Jahren ihre Spuren hinterlassen. Das Patriarchat existiert zweifellos weiter fort, aber die Idee der Gleichstellung der Geschlechter hat tiefe Wurzeln in der russischen Gesellschaft.

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