Neue geologische Epoche: Verflixtes Anthropozän
Eine internationale Forschergruppe will seit letztem Jahr ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, ausrufen. Bei der Umsetzung hakt es jedoch.
Die Forscher sind davon überzeugt, dass sich anthropozäne, also von der Lebensweise des Menschen geprägte Erdschichten funktionell und geologisch deutlich vom jüngsten Zeitabschnitt der Erdgeschichte, dem Holozän, unterscheiden. Seit 11.700 Jahren hält sich das Holozän als geologische Epoche. Die Bestätigung eines neuen Erdzeitalters wäre somit ein historischer Moment.
Der Geologe Michael Wagreich von der Universität Wien gehört zu der internationalen Forschungsgruppe. Er ist sich sicher, dass viele der Änderungen in den Erdschichten irreversibel sind. „Und viele Parameter, wie etwa CO2, haben den Schwankungsbereich des Holozäns eindeutig verlassen“, sagt Wagreich.
Jüngste Forschungsergebnisse rund um den amerikanischen Mineralogen Robert Hazen vom Carnegie-Institut für Wissenschaft lieferten weitere Zeugnisse menschlicher Spuren auf der Erde: In einem Forschungsartikel, der im Fachjournal American Mineralogist veröffentlicht wurde, zählten die Forscher 208 Minerale auf, die fast oder sogar zur Gänze nur durch menschlichen Einfluss, allen voran die Industrialisierung, entstanden sind.
Die Minerale heißen Widgiemoolthalit, Fiedlerit oder Albrechtschraufit. Sie sind vor allem in großen Bergwerken entstanden, einige von ihnen kommen in der Natur gar nicht vor. „Jedes dieser Minerale erzählt gleichzeitig auch die Geschichte menschlicher Handlungen“, sagt Hazen, „vom Handel über den Bergbau, die Fabrikarbeit, die Entwicklung von Ballungsräumen und die Entstehung von Abfallerzeugnissen“.
Wagreich überraschen die jüngsten Ergebnisse der Mineralogen nicht. Diese seien eher noch konservativ gedacht, wenn man an die vielen neuen Materialien wie Plastik oder Beton denkt, die der Mensch neu in die Umwelt bringt.
Definierbare Epoche
Ein neues Zeitalter lässt sich aber trotzdem nicht so einfach ausrufen. Obwohl sich die internationale Arbeitsgruppe einig ist, hakt es noch bei der Umsetzung und der Anerkennung des neuen Erdzeitalters in den Naturwissenschaften. Innerhalb der Geowissenschaften ist zunächst die Frage umstritten, ob das Anthropozän überhaupt eine gültige formal zu definierende Einheit der Erdgeschichte sein soll und kann, erklärt Wagreich.
Einige Geologen wie Whitney Autin vom Suny-College in New York und John Holbrook von der Texas Christian University sind der Ansicht, dass die Schichten zu kurzlebig und zu dünn sind, um ein neues Erdzeitalter auszurufen. Kritiker des Anthropozäns sehen darin keinen wissenschaftlichen Terminus, sondern nur einen Begriff der Popkultur, der politisch motiviert ist und eine Modeströmung darstellt.
Die internationale Anthropozän-Arbeitsgruppe ist sich bislang selbst noch unsicher, wo sie den Beginn der neuen Epoche ansetzen würde. Hier gehe es um die Frage, welches global verbreitete, gut identifizierbare Signal in den geologischen Ablagerungen als Beginn genommen werden kann, erklärt Wagreich. Und das ist keine einfache Frage.
Zeitalter der Erdgeschichte werden mittels eines umfassenden Regelwerks definiert. Über die Zeitskala wacht die Internationale Stratigrafische Kommission. Um den Beginn einer Epoche festzusetzen, wird diese meist mit einem neu auftretenden Leitfossil markiert und definiert. Wann dieser beim Anthropozän angesetzt sein soll, ist aber eine der am längsten diskutierten Fragen innerhalb der Arbeitsgruppe zum Anthropozän.
Wenn man das Anthropozän mit einem anthropogenen, vom Menschen gemachten Signal beginnen lassen möchte, stoße man auf die Schwierigkeit einer meist exponentiell wachsenden Kurve, wo ein wirklicher Beginnpunkt nicht festlegbar ist, sagt Wagreich. Innerhalb der Arbeitsgruppe spreche sich die Mehrheit für einen Beginn im Zeitraum der „Great Acceleration“, also nach der Explosion der ersten Atombombe 1945, aus.
Hierbei könnten die Plutonium-Isotope aus den Atombombenversuchen ab 1950 bis zu einer Spitze 1964 als global vorhandenes Signal und somit als stratigrafischer Marker genommen werden. Das werde jetzt aktuell von der Arbeitsgruppe an mehreren Stellen auf der Erde untersucht.
Ackerbau und Viehzucht
Längst beschäftigt die Frage nicht nur Naturwissenschaftler. Die Diskussion über das Anthropozän – der Begriff wurde 2000 vom niederländischen Chemiker Paul Crutzen gemeinsam mit Eugene Fr. Stoermer geprägt – hat längst auch die Kulturwissenschaften erreicht. Dirk Matejovski vom Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf schlägt in seinem 2016 erschienenen Paper „Anthropozän und Apokalypse“ (pdf-Datei) vor, das Anthropozän viel früher beginnen zu lassen: „Soll das Anthropozän-Konzept ebenso ernst wie wörtlich genommen werden, dann wäre es nur konsequent, den Beginn dieses ultimativen Eingriffs in die Ökosphäre mit der neolithischen Revolution, das heißt, spätestens mit der Sesshaftigkeit des Menschen und der Ausbildung von Ackerbau und Viehzucht, beginnen zu lassen.“
Der Soziologe Jason Moore argumentiert, das Anthropozän sollte Kapitalozän heißen, da die geologische Entwicklung durch die industrielle Entwicklung maßgeblich beeinflusst wurde. Der Philosoph Jürgen Manemann spricht sich in seinem Buch „Kritik des Anthropozäns“ angesichts des globalen Klimawandels für eine neue Humanökologie, jenseits des Anthropozentrismus, aus.
Die Frage nach dem Beginn des Anthropozäns sei nach außen hin natürlich die interessanteste und spekulativste, sagt Wagreich. Der Beginn sei für die internationale Forschungsgruppe aber eher nur eine „pragmatische“ Frage. „Da es vorwiegend anthropogene Ablagerungen und Signale sind, die wir sehen, ist der Begriff von geowissenschaftlicher Seite angebracht und verwendbar“, sagt Wagreich.
Sollte das Zeitalter Anthropozän von der gesamten Scientific Community angenommen werden, glaubt der Forscher, würde dies den globalen Wandel als Tatsache etablieren, der in den geologischen Archiven und den abgelagerten Schichten angekommen ist: „Leugner des Klimawandels hätten dann zumindest schlechtere Karten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana