piwik no script img

Neue Wege in der PflegeSo viel Zeit muss sein

Anziehen, waschen, weiter – in der häuslichen Altenpflege fehlt häufig die Zeit für die menschlichen Gesten. Ein Pilotprojekt will das ändern.

Mehr Zeit für kleine Dinge, die nicht im Abrechnungskatalog stehen Foto: Steve Przybilla

Emsdetten taz | Um 8.05 Uhr hat Andreas Mühl schon ein beachtliches Arbeitspensum hinter sich. Er hat Annemarie Puntke geweckt und gewaschen, sie zur Toilette begleitet, ihren Verband kontrolliert, ihre Haare geföhnt und ihr die Kleidung angezogen. Und, auch das ein Ritual, er hat ihr ihre Lieblingskette um den Hals gelegt. Solche Details sind dem Pfleger wichtig.

„Prima, Frau Puntke“, sagt Mühl, als die 82-jährige Seniorin auf dem Treppenlift Platz genommen hat. Noch vor einem Jahr hätte der Pfleger nun aus dem Haus hasten müssen, weiter zum nächsten Klienten. An diesem Tag aber setzt er sich an den Küchentisch und trinkt mit ihrem Ehemann Werner Puntke noch eine Tasse Kaffee. „Das hätte es früher nicht gegeben“, sagt Mühl, während er die erbrachten Leistungen in einer Aktenmappe notiert. „Jetzt ist alles ein bisschen anders.“

Andreas Mühl arbeitet bei einem ambulanten Pflegedienst in Emsdetten, einer deutschen Kleinstadt 50 Kilometer vor der niederländischen Grenze. Die Nähe zum Nachbarland ist wichtig, denn Mühl und sein Team testen ein Arbeitsmodell, das in den Niederlanden schon länger funktioniert.

Dort entscheiden die Pflegekräfte selbst, wie viel Zeit sie bei einem Patienten verbringen. Sie organisieren sich in kleinen Teams von maximal zwölf Personen und treffen eigenständige Entscheidungen: Über die Pflege-Leistungen, das Budget, den Dienstplan, die Einstellung neuer Kollegen.

Noch wichtiger aber: Die Fachkräfte sind nicht mehr allein, sondern bekommen Unterstützung. Das Konzept heißt nicht umsonst „Buurtzorg“, zu Deutsch: Nachbarschaftshilfe. So sollen Nachbarn, Angehörige oder Freunde jene Aufgaben übernehmen, für die nicht unbedingt eine Fachkraft erforderlich ist: Kleidung anziehen, Essen zubereiten, Medikamente verabreichen. Im Gegenzug bleibt den Profis mehr Zeit für die eigentliche Pflege. Und für die kleinen Dinge, die im stressigen Alltag sonst auf der Strecke bleiben.

Eine 180-Grad-Wende

Bei Andreas Mühl ist es die Tasse Kaffee am Küchentisch. Bei anderen mag es ein Plausch über das Wetter sein. „Man sollte diese Zeit nicht unterschätzen“, sagt Mühl und meint damit nicht nur die menschliche Geste. Auch das Gesundheitssystem könne profitieren, wenn Pfleger ein paar Minuten gewinnen.

„Stellen Sie sich vor, ein älterer Herr klagt am Morgen über Bauchschmerzen“, erzählt Mühl. Normalerweise müsste er einen Arzt rufen; der Mann käme ins Krankenhaus. „Wenn wir aber Zeit zum Reden haben, erzählt er mir vielleicht, dass er am Vortag frische Bohnen gekauft hat. Wir haben die Ursache der Bauchschmerzen geklärt und einen unnötigen Aufenthalt im Krankenhaus verhindert.“

Buurtzorg funktioniert aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen braucht es genügend Freiwillige, die bereit sind, bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Ob das nur in Emsdetten der Fall ist oder auch in anderen, größeren Städten, ist eine von vielen offenen Fragen.

Zum anderen muss das neue Modell in das bestehende Abrechnungskorsett gepresst werden. Bisher bekommen Pflegedienste in Deutschland einzelne Leistungen pauschal erstattet: Stützstrümpfe anziehen, Haare waschen, Aufrichthilfe benutzen – alles einzelne Kostenstellen. Bei Buurtzorg wiederum soll nur noch nach Zeit bezahlt werden, was nichts Geringeres als eine 180-Grad-Wende bedeutet.

Ob ein solch radikaler Schnitt in Deutschland funktioniert, soll durch das Modellprojekt herausgefunden werden. Die Vorzeichen dafür sind gut, denn im Pflegesektor herrscht akuter Personalmangel. Die Schätzungen reichen von 25.000 bis zu 80.000 fehlenden Pflegekräften. Fest steht: Die Arbeitsbedingungen gelten als hart und unattraktiv. Der Wille, etwas zu ändern, ist groß. Aber klappt das auch?

„Am Anfang war es sehr holprig“, räumt Cornelia Gang ein. Als Geschäftsführerin des Pflegedienstes „Impulse“, bei dem auch Andreas Mühl arbeitet, ist sie ein großer Fan des Buurtzorg-Konzepts. In der Praxis gestaltete sich die Umstellung aber komplizierter als gedacht. „Das war erst einmal Stress für die Mitarbeiter“, sagt Gang, denn die Buurtzorg-Teams müssen sich nun komplett selbst organisieren. Eine separate Bürostelle, die Dienstpläne erstellt, sich mit Ärzten austauscht oder Personalgespräche führt, gibt es nicht mehr. „Damit ist viel Eigenständigkeit und Verantwortung verbunden“, sagt Gang. „Das ist nicht für jeden etwas.“

Finanziell rechnet sich das neue Modell noch nicht

In ihrer Firma existieren deshalb beide Modelle parallel: 24 Fachkräfte arbeiten nach dem klassischen Konzept, fünf haben Ende 2018 auf Buurtzorg umgestellt. Finanziell rechnet sich das neue Modell laut Gang noch nicht. „Momentan zahlen wir drauf. Aber genau deshalb machen wir dieses Projekt – um herauszufinden, was die Umstellung im Alltag bedeutet.“ Dazu gehören auch ständige Verhandlungen mit den Krankenkassen: Wenn nicht mehr nach einzelnen Leistungen, sondern nach Zeit abgerechnet wird, welcher Stundensatz ist dann fair? „Für uns ist das ein Lernprozess“, antwortet Gang. „Es dauert bestimmt noch ein Jahr, bis sich die Dinge eingespielt haben.“

Der Verband der Ersatzkassen (vdek) unterstützt das Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen und spricht von einem „innovativen Versorgungsansatz“. Aber: „Eine Schwierigkeit bei Buurtzorg ist das Abrechnungssystem“, bemerkt Dirk Ruiss, Leiter der Landesvertretung in NRW. „In der Pflege werden die Leistungen abgerechnet, während Buurtzorg pauschal die Zeit abrechnet. Wir wollen sicherstellen, dass die Leistungen beim Pflegebedürftigen ankommen. Das Modellprojekt wird auch klären, wie dies gelingt.“

Auch in der Schweiz, die mit ähnlichen Problemen wie Deutschland kämpft, ist Buurtzorg in der Diskussion. Die Fachhochschule Nordwestschweiz hat untersucht, ob sich das niederländische Modell auf schweizerische Verhältnisse übertragen ließe. „Einfach wird dies nicht“, schlussfolgern die Autoren der Studie. Denn: „Dies ist kein Modell, das nur zum Ziel hat, die (mittlere) Führungsebene abzuschaffen oder die Kosten zu reduzieren.“

Patient als Kostenfaktor oder Milchkuh

Da die Teams ihr Budget selbst verwalten, sei eine Kultur des Vertrauens entscheidend. „Das Schwierige dabei ist: Diese Kultur kann nicht verordnet werden“, heißt es in der Studie. „Man muss sie leben, entwickeln, pflegen und immer wieder erneuern.“

Wenn diese Hürden aber überwunden werden – da sind sich die Wissenschaftler einig –, dann könnte Buurtzorg ein Gewinn für das Schweizer Gesundheitssystem darstellen. Ähnlich sieht es Pierre-André Wagner vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). „Wir wollen den Systemwechsel“, sagt Wagner, „denn aktuell wird der Patient entweder als Kostenfaktor oder als Milchkuh gesehen.“ Beides führe zu einer hohen Frustration in der häuslichen Pflege, ähnlich wie in Deutschland. „Wir haben einen riesigen Bürokratie-Apparat, aber vom Geld kommt am Ende beim Patienten kaum etwas an. Diese Entwicklung ist katastrophal und muss gestoppt werden.“

Buurtzorg könnte gewissermaßen das Gegenmittel darstellen. „Als Berufsverband sind wir von diesem Modell begeistert“, sagt Wagner. Wenn Nachbarn, Freunde und andere Freiwillige die Fachkräfte unterstützten, könnten Pflegebedürftige länger in ihrem Zuhause bleiben. „Am Schluss wird die Qualität so gut sein, dass auch die Kosten gedämpft werden“, ist sich Wagner sicher. Aber: „Auch in Holland waren die Leute am Anfang skeptisch. Bei uns muss dieser Umdenkprozess erst starten.“

Euphorie und viele offene Fragen

Trotz aller Euphorie gibt es nämlich viele offene Fragen. Werden sich auch in Großstädten genügend Menschen finden, die ihren Nachbarn helfen? Könnte die Umstellung zur reinen Zeit-Abrechnung Missbrauch begünstigen? Und gibt es überhaupt genügend Pflegekräfte, die zu einer solchen grundsätzlichen Umstellung bereit wären?

Auch in Emsdetten, wo das deutsche Modellprojekt läuft, sind diese Fragen noch nicht gänzlich beantwortet. Werner Puntke, der Ehemann, ist aber schon heute überzeugt. „Wir fanden dieses Prinzip von Anfang an sehr gut“, sagt der 86-Jährige. Durch die kleineren Teams kämen maximal fünf verschiedene Pfleger ins Haus. „Darauf kann sich meine Frau viel besser einstellen.“

Dass nicht jedes Mal eine Fachkraft kommen muss, um Medikamente zu verabreichen oder das Frühstück zu richten, ist für den älteren Herrn der Normalfall. „Wir haben eine große Familie, die uns sehr unterstützt“, sagt Puntke. „Im Grunde leben wir die Buurtzorg-Idee schon immer.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • 9G
    97088 (Profil gelöscht)

    Das Modell „Buurtzorg“ liest sich schön angenehm, funktioniert im Prinzip auch und wird als eine Lösung aus der „industriellen Pflege“ angesehen. Doch Vorsicht ist geboten! Buurtzorg funktioniert ausschließlich mit viel Eigen- und Ehrenamtengagement. Und das wiederum ist: Eine spezielle Form der sozialen Ausbeutung und verschleiert die tatsächlichen Kosten einer ambulanten (und im Grunde auch einer stationären) Pflege. Buurtzorg integriert Freundschaft, Nachbarschaft, Zugewandtheit und professionelle Dienstleister und überdeckt so die realistischen Kosten einer nachhaltigen und menschenwürdigen Versorgung und Pflege. In der Schweiz, in Dänemark und auch in Italien gibt es ähnliche Projekte/Ideen - letztlich verfolgen sie alle das gleiche Ziel: Unterstützende Leistung zum mangelhaften Sozialversicherungssystem und/oder zu staatlichen Leistungen. Die Demografie - somit die Zunahme älterer Bevölkerungskreise - wird diese Idee im Laufe der kommenden Jahre ohnehin an den Anschlag treiben. Es hilft nichts: Wir benötigen ein „Echtkostenmodell“ und einen Weg aus der Industriepflege, in dem sich die arbeitenden Menschen und die Leistungsbezieher ökonomisch und menschlich wiederfinden.



    Unsere Bundesregierung - allen voran Herr Spahn - zeigen sich hier in der Bandbreite von ignorant bis unwillig.