Neue Studie: Deutschland ist ungerecht
Nicht einmal 20 Prozent der Deutschen empfinden, dass es in unserem Land noch gerecht zugeht. Dabei sehen 85 Prozent Gerechtigkeit als ein hohes Gut an
Mit der Gerechtigkeit ist das so eine Sache. Sie lässt sich nicht messen, man kann sie nur fühlen.
In Deutschland ist das mit der Gerechtigkeit eine ganz besondere Sache. Sie wird von den meisten Menschen als ein hohes Gut betrachtet - nicht zuletzt deswegen ist sie auch zu einer billigen Ware geworden. Jede Partei hat sie mittlerweile im Angebot. Neuerdings nimmt sogar Guido Westerwelle das Wort soziale "Gerechtigkeit" in den Mund, ohne sich übergeben zu müssen.
Bis zum 6. Dezember 2001 dachte man, das mit der Bildung hier sei schon in Ordnung. Dann riss die Pisa-Studie das Land aus allen Träumen. Sie zeigte: Der Sohn einer Friseurin hat eine siebenmal geringere Chance, das Gymnasium zu besuchen, als der Sohn eines Arztes. Dieser Nachteil gilt bei gleicher Leistungsfähigkeit der Schüler.
Hektisch wurden Nachforschungen angestellt, wie ein Bildungssystem nur so ungerecht sein könne. Die Ergebnisse wurden immer schlimmer: Ein Viertel der 15-Jährigen kann nur radebrechend lesen. Die meisten von ihnen stammen aus Elternhäusern der, wie es hieß, "unteren Dienstklasse"; diese Eltern sind arbeitslos, arm und schlecht gebildet. Ihre Kinder konzentrieren sich in Haupt- und Sonderschulen. Ihre Lebensperspektive wird bestimmt durch den sozialen Status und den Bildungsstand der Eltern.
Dass Kinder ungleiche Startchancen haben, ist üblich. Überall auf der Welt. Das Besondere hierzulande ist: Schulen gleichen das nicht aus, sondern verstärken die Nachteile systematisch. Das deutsche Bildungswesen, so herrscht heute in der Fachwelt Einigkeit, ist das ungerechteste in den OECD-Ländern. Weil der Staat durch sein Schulsystem Ungleichheit erzeugt. CIF
Deutschland hat es zu einem negativen Rekord in der OECD gebracht: In keinem anderen westlichen Industrieland driften die Einkommen zwischen den Niedriglöhnern und den Spitzenverdienern so schnell auseinander wie hier. Inzwischen gelten schon 17,3 Prozent als arm, weil sie über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens verfügen. Auch die Mittelschicht steigt ab. Die Realeinkommen lagen im Jahr 2005 um zwei Prozent niedriger als 1991. Das Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahrzehnts kam also allein den Kapitalbesitzern zugute. Diese Schieflage wurde durch die Steuerreformen der letzten Jahre noch verstärkt, wie die OECD moniert. Von dem gesenkten Spitzensteuersatz hätten vor allem Alleinstehende mit hohen Gehältern profitiert. Zugleich wird in Deutschland überdurchschnittlich belastet, wer unterdurchschnittlich verdient. Der Grund dafür: Anders als die Steuern werden die Sozialbeiträge nicht progressiv erhoben, sondern betragen ab einem monatlichen Bruttoverdienst von 800 Euro rund 42 Prozent. Für die Spitzenverdiener hingegen sind die Sozialbeiträge gedeckelt. Die "Beitragsbemessungsgrenze" für die Krankenkasse liegt bei 3.562,50 Euro monatlich. UH
Arme Menschen sterben in Deutschland deutlich früher als wohlhabende. Männer mit niedrigem Einkommen haben eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung als gut verdienende Männer. Bei Frauen liegt dieser Unterschied bei fünf Jahren. Das geht aus Daten des Bundesgesundheitsministeriums hervor.
Auch einige schwere Krankheiten kommen in armen Schichten weit häufiger vor als in den wohlhabenden. So treten Herzinfarkte und Diabetes bei Menschen mit niedrigem Einkommen doppelt so häufig auf wie bei denen, die gut verdienen. Jugendliche, die aus armen Familien stammen, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Essstörungen zu erkranken, wie ihre Altersgenossen aus wohlhabenden Verhältnissen.
Dass die Armen häufiger erkranken und früher sterben, ist auch auf ihr Verhalten zurückzuführen. Menschen aus sozial schwächeren Schichten rauchen häufiger und trinken mehr Alkohol, sie nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil und ernähren sich ungesünder, ihr Bewusstsein für gesundheitliche Belange ist geringer. Experten weisen darauf hin, dass Arme medizinische Leistungen wegen Praxisgebühren, Zuzahlungen oder aus Unkenntnis weniger in Anspruch nehmen. SAM
Es gilt also zu fragen, was jemand unter Gerechtigkeit versteht und wie er sie herzustellen gedenkt. Sozialwissenschaftler der Humboldt-Universität in Berlin haben dies getan. Im Auftrag der Zeitschrift GEO befragten sie 1019 repräsentativ ausgewählte Bürger zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden. Der Anlass war die Jubiläumsausgabe zum 31. Geburtstag des Reportermagazins; sie widmet sich in 20 Geschichten dem "Menschheitsthema Gerechtigkeit".
Die Wissenschaftler haben im Sommer 2007 ebenso aufschlussreiche wie überraschende Erkenntnisse gewonnen, die sie gestern in Berlin der Öffentlichkeit präsentierten. Zusammengefasst lauten sie so: Die Verteilung von Einkommen und Chancen in Deutschland empfinden die meisten als ungerecht. Das eigene Einkommen jedoch sowie Bildung und Vererbung werden eher als gerecht bewertet. Und die allermeisten Deutschen erwarten vom Staat, dass er für soziale Gerechtigkeit sorgt.
Die Studie selbst belegt, warum "Gerechtigkeit" alle anderen politischen Fragen in den vergangenen Jahren Stück für Stück in den Hintergrund gerückt hat: Es ist das bestimmende Thema in den privaten wie öffentlichen Debatten. 85 Prozent aller Befragten geben an, "oft" oder "manchmal" darüber zu diskutieren. Angela Merkel hat diese Lektion bereits im Herbst 2005 gelernt. Ihr Bundestagswahlkampf, den sie mit der Fackel der Freiheit in der Hand führte, endete fast in einem Deasaster.
Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass die Verhältnisse in Deutschland ungerechter geworden sind. Nur knapp die Hälfte der Bürger glaubt heute noch, dass Begabung und Intelligenz belohnt werden. Im Jahr 1991, als die Studie des "International Social Justice Project" das erste Mal durchgeführt wurde, waren deutlich mehr dieser Ansicht. Heute stimmen nur noch 18 Prozent der Aussage zu, dass Einkommen und Vermögen gerecht verteilt sind; in Osten sind es sogar nur 8 Prozent, im Westen 20 Prozent.
Solange es gleiche Chancen für alle gibt, ist es gerecht, wenn einige mehr Geld und Vermögen haben als andere - diesem Satz stimmen 78 Prozent der West- und 73 Prozent der Ostdeutschen zu. Ein Anreiz für Leistung besteht nur dann, wenn die Unterschiede im Einkommen groß genug sind - dieser Aussage befürworten immerhin 59 Prozent der West- und 55 Prozent der Ostdeutschen zu. Gleichzeitig aber sind große Teile der Bevölkerung überzeugt davon, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Das empfinden sie als ungerecht. Ihrer Ansicht nach sollten Manager weniger, ungelernte Arbeiter hingegen mehr verdienen. Das geschätzte monatliche Durchschnittseinkommen von führenden Managern beträgt 125.000 Euro - als gerecht empfinden die Befragten rund 48.000 Euro. Ein Hilfsarbeiter verdient rund 1.130 Euro monatlich - für gerecht hielten die Befragten 1.431 Euro.
Klar wird in der Umfrage auch, dass sich die Deutschen einen Staat wünschen, der mehr soziale Verantwortung übernimmt. Auffällig ist, dass Ostdeutsche höhere Ansprüche an den Sozialstaat stellen als Westdeutsche. Eine große Mehrheit (West: 75 Prozent; Ost: 88 Prozent) plädiert dafür, dass "der Staat für alle, die arbeiten wollen, einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen" sollte. Fast ebenso viele Menschen sind der Ansicht, die Regierung müsse "für alle Menschen einen Mindestlebensstandard garantieren". Der Aussage "Der Staat sollte eine Obergrenze für die Einkommenshöhe festsetzen" stimmen im Westen 41 Prozent, im Osten immerhin 57 Prozent der Befragten zu.
Die gefühlte Ungerechtigkeit führt jedoch nicht etwa zu mehr Klarheit in der Frage, was Gerechtigkeit genau ausmacht. So wie die Zustände heute seien, wüssten sie gar nicht mehr, was eigentlich gerecht ist - das behaupten immerhin 52 Prozent der West- und 65 Prozent der Ostdeutschen. Fast die Hälfte der Befragten ist sogar der Überzeugung, es sei zwecklos, sich über soziale Gerechtigkeit zu streiten. Die Verhältnisse würden sich doch nicht ändern lassen.
Diese Verunsicherung macht auch drei Überraschungen der Studie nachvollziehbar. Zum einen halten die meisten Leute ihr eigenes Einkommen gar nicht für so ungerecht. Das gilt auch für Befragte, die wenig verdienen. Die Erklärung der Sozialwissenschaftler: Wer nicht zu den besser Gestellten gehört, neige dazu, soziale Unterschiede nicht so stark wahrzunehmen.
Zum anderen wird die Ungleichheit durch Erbschaft akzeptiert. 84 Prozent finden es gerecht, dass Eltern ihr Vermögen an ihre Kinder weitergeben, auch wenn Kinder reicher Eltern dadurch bessere Chancen haben. Und etwas mehr als die Hälfte der Deutschen plädiert sogar für die völlige Abschaffung der Erbschaftssteuer. "Die Leute wollen ihr Erbe behalten", sagt Bernd Wegener, Leiter der Forschungsgruppe. "Erben betrachten sie als Familienangelegenheit."
Und schliesslich halten nur 34 Prozent der Befragten das deutsche Bildungssystem für ungerecht - obwohl es im internationalen Vergleich als extrem unfair dasteht. Auch hierfür haben die Wissenschaftler eine einleuchtende Erklärung: Gerade Eltern aus der Mittelschicht sähen das soziale Problem schon, sie hätten aber kein Interesse, es zu lösen. Gerade ihre Kinder seien es doch, die von dem unsozialen Bildungssystem profitierten.
Die Folgen dieser gefühlten Ungerechtigkeit? Politikverdrossenheit und Fatalismus. Nur 31 Prozent der Befragten im Westen und 34 Prozent im Osten geben an, ihr Verhalten in den vergangenen 12 Monaten geändert zu haben. Die wenigsten Menschen sind bereit, selbst für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen.
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