piwik no script img

TÜRKEI: NUR DAS MILITÄR IST GLÜCKLICH ÜBER DAS TUGENDPARTEI-VERBOTNeue Chancen für die Islamisten

Obwohl die Führung der Tugendpartei (Fazilet Partisi) mit ihrem Verbot gerechnet hatte, scheint die Empörung der Abgeordneten echt. Einige haben Tränen in den Augen, andere vergraben ihr Gesicht in den Händen. Bis zuletzt hatten sie gehofft, dass der Kelch des Verbots an Fazilet vorübergehen könnte. Schließlich hatte sich die Partei – anders als ihre Vorgängerin, die 1997 verbotene Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) – immer bemüht, nicht anzuecken. Kein führendes Mitglied redete je vom Gottesstaat, stattdessen gab es Bekenntnisse zu Europa. Vor allem aber war Fazilet – anders als Refah, die bis kurz vor ihrem Verbot mit Necmettin Erbakan den Ministerpräsidenten stellte – immer in der Opposition geblieben. Bei den letzten Wahlen fiel die Partei im Vergleich von 21 auf 15 Prozent. Alle Umfragen signalisierten, dass das Reservoir der Islamisten damit ausgeschöpft ist. Für die breiten Massen, so das Fazit fast aller Kommentatoren, hatte der politische Islam seinen Glanz verloren.

Angesichts der Gefahr einer erneuten Stärkung der Islamisten durch das Verbot ist verständlich, dass sich das politische Establishment der Türkei gestern in betretener Zurückhaltung übte. Stille Genugtuung dürfte sich dagegen im Hauptquartier der türkischen Streitkräfte ausgebreitet haben. Seit die Armeeführung mit einem Forderungskatalog an den Refah-Ministerpräsidenten Erbakan am 28. Februar 1997 dessen Sturz einleitete, spricht man in der Türkei vom „andauernden Prozess des 28. Februar“. Gemeint ist, dass die Armee seit diesem Datum geradezu fanatisch darauf bedacht ist, jede vermeintliche Verletzung der laizistischen Prinzipien des türkischen Staates abzuwehren. Immer wieder hat Generalstabschef Kivrikoglu in den letzten Jahren die islamische Gefahr beschworen. Und wenn diese Gefahr sich so gar nicht zeigen wollte, pochte der General darauf, die Hydra könne ihr Haupt jederzeit wieder erheben.

So sahen sich die elf Richter des Verfassungsgerichts während ihrer Urteilsfindung mit sehr unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert. Einerseits sollte die seit dem Wirtschaftsdesaster im Februar mühsam zurückgewonnene minimale politische Stabilität nicht gefährdet werden. Andererseits wollte das Militär auf keinen Fall einen Persilschein für die Islamisten. Mit dem Urteil vom Freitagnachmittag kamen die Richter diesen Erwartungen so weit wie möglich entgegen. Das Verbot aufgrund verfassungsfeindlicher Bestrebungen ermöglichte ihnen, Fazilet auszuschalten, ohne dass damit automatisch alle 102 Abgeordneten ihren Parlamentssitz verlieren. Stattdessen konnten die Richter zwei Parlamentarier und drei weitere Funktionäre herauspicken, die sich „verfassungsfeindliche Äußerungen“ zuschulden kommen ließen und jetzt mit Politikverbot belegt wurden.

Vorübergehend werden nun im türkischen Parlament 100 formal unabhängige Abgeordnete sitzen, die eine neue politische Heimat suchen. Obwohl sich führende Exponenten des modernistischen Fazilet-Flügels wie Abdullah Gül in ersten Reaktionen sehr bedeckt hielten, wird allgemein erwartet, dass sich aus der Tugendpartei heraus zwei, vielleicht sogar drei neue Organisationen bilden werden. Angeblich sind einige Ex-Fazilet-Abgeordnete auch auf dem Sprung zu anderen Parteien – vor allem zur ultranationalistischen MHP und zur rechtskonservativen ANAP – was dazu führen könnte, dass die MHP zur stärksten Fraktion wird. „Der politische Islam der Türkei“, so der Kolumnist Okay Gönelsin, „steht 33 Jahre nach seiner Gründung vor der Spaltung.“ Die Reformer um Gül und den früheren Istanbuler Oberbürgermeister Tayyip Erdogan werden, so Gönelsin, die Gelegenheit ergreifen, ihre eigene Partei zu gründen, ohne sich den Vorwurf der Spaltung zuzuziehen.

Auf der anderen Seite spielt die Führung der Fazilet noch mit dem Gedanken, alle ihre früheren Abgeordneten zum Rücktritt aufzufordern, um so Neuwahlen zu erzwingen. Die werden notwendig, wenn 5 Prozent der Parlamentssitze – das sind 28 Sitze – vakant sind. Doch ob durch Neuwahlen oder durch die Gründung neuer Parteien, islamische Parteien wird es weiterhin geben. Für die Traditionalisten machte am Freitagabend bei einer Großveranstaltung in Istanbul der alte „Führer der Gläubigen“ Erbakan klar, was er von dem Urteil hält: „Habt etwas Geduld“, rief er tausenden von Anhängern zu, „dieses Urteil bedeutet für uns lediglich, dass wir das Etikett austauschen. Es wird bald weitergehen.“ JÜRGEN GOTTSCHLICH

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen