piwik no script img

Neue Bücher über FreejazzKonzeptionelle Grenzüberschreitung

Schlaglichter des Freejazz: Drei Buch-Neuerscheinungen richten den Blick auf Szenegrößen in den USA, Deutschland und Schweden.

Anthony Braxton 1981 Foto: Leemage/imago

Es war lange ziemlich leicht, über Jazz zu schrei­ben. Man konnte ihn wie Theodor W. Adorno als Schlager wahrnehmen, der Kunstverdacht lag eher fern. In den 1940ern, mit dem Auftauchen von Bebop, begann sich das allerdings zu verändern, und was seitdem aus dem Jazz geworden ist, beschäftigt Musik- und Äs­the­tik­theo­re­ti­ke­r:in­nen gleichermaßen.

Die Fragen werden dabei immer offener. Seit einigen Jahrzehnten changieren die Akteure in einem unübersichtlichen Improvisationsgelände zwischen Neuer Musik und Pop, und mittlerweile deutet sich mancherorts an, dass dem vampiristischen Pop ausgerechnet aus dem ständig totgesagten Jazz frische Kräfte zufließen.

Dass Jazz auch eine Kunstmusik geworden ist, zeigt sich unter anderem darin, dass gerade seinen kompromisslosesten Vertretern aufwändige und vor allem auch reich illustrierte Bücher gewidmet werden. An Anthony Braxton kommt man da auf jeden Fall nicht vorbei. Im schwarzen Unterschichtsmilieu in der South Side von Chicago mit Blues und Tanzclubs aufgewachsen, ist er längst zu einem der innovativsten Vertreter Neuer Musik geworden.

Timo Hoyers Monografie verbindet eine klassische Biografie mit ausgiebigen musiktheoretischen Darstellungen. Der Autor ist ein ausgesprochener Braxton-Nerd, und er gibt die fehlende Distanz zu seinem Protagonisten offen zu. Hoyer ist so etwas wie die Stimme seines Herrn, und so wendet er sich auch programmatisch dagegen, dass Braxton immer nur im Jazz-Diskurs rezipiert und nicht auch als herausragender Gegenwartskomponist gehandelt wird.

Braxtons Familie lehnte weiße Musik ab

Die Glanzzeit Ende der Siebziger, als der Altsaxofonist und Multiintrumentalist Braxton für das Majorlabel Arista seine bekanntesten Alben eingespielt hat, steht deshalb keineswegs im Mittelpunkt.

Manche Fragen, die angesichts des Werdegangs seines Idols entstehen, beantwortet Hoyer nicht allzu voreilig – aber man kann das durchaus als Vorzug sehen. Es gibt nämlich ein Geheimnis bei Braxton, und je genauer man es zu fassen versucht, desto verwirrender scheint es zu werden. In seinem frühen Umfeld ging es um traditionelle schwarze Musik.

Mit Weißen kam seine Familie so gut wie nie in Berührung, und deren Musik lehnte sie ab. Deshalb ist es verblüffend, wie wenig Braxton schon als Jugendlicher mit dem Blues anfangen konnte, der ihn ganz selbstverständlich umgab. Zu seinen ersten wichtigen Einflüssen gehörten ausgerechnet Dave Brubecks Altsaxofonist Paul Desmond sowie der Tenorist Warne Marsh – coole, zurückhaltende Musik mit weichem Klang, gespielt von Weißen.

Spätestens, als Braxton zu Hause endlich John Coltrane und Ornette Coleman hörte, zerstritt er sich endgültig mit seinen Eltern und seinen Brüdern: diese Erneuerer zerstörten das Einverständnis darüber, wie „Schwarze Musik“ zu sein habe.

Bedeutende Freejazzer emigrieren nach Paris

Aufschlussreich in Hoyers Buch ist vor diesem Hintergrund auch seine Darstellung des Kollektivs AACM („Associa­tion for the Advancement of Creative Musicians“), das im Chicago der sechziger Jahre die schwarze Musik revolutionierte. Die lose Künstlervereinigung stieß bei der Black Community, an die sich die Musiker eigentlich richteten, auf Desinteresse und Widerstand.

Um 1970 emigrierten die bedeutendsten ihrer Ver­tre­te­r:in­nen nach Paris, wo bahnbrechende Aufnahmen erschienen. Braxton mischte bei der AACM früh mit, und die Zeit in Paris, wo er bezeichnenderweise auch auf Kol­le­g:in­nen der New Yorker Szene stieß, erwies sich für ihn als entscheidende Weichenstellung.

Das Einzelgängerische fällt bei ihm von Anfang an auf. Bei Braxton zeigen sich zentrale Aspekte eines klassischen Entwicklungs- und Künstlerromans. Sein Schlüsselerlebnis bekommt bereits in Darstellungen von ihm selbst eine literarische Dimension: In der Militärbibliothek im südkoreanischen Seoul, wo er Mitte der 1960er in einer Band der U. S. Army spielte, stieß er auf ein Album mit Arnold Schönbergs „Drei Klavierstücken op. 11“ (1909).

Die Bücher

Timo Hoyer: „Anthony Braxton – Creative Music“. Wolke Verlag Hofheim 2021, 728 Seiten, 68 Euro

Markus Müller: „FMP: The Living Music“. Wolke Verlag, Hofheim 2022, 396 Seiten, 39 Euro

Sven-Åke Johansson: „Versuch der Rekonstruktion einer vergangenen Zeit (photographisch) 1967–1982“. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2021. 416 Seiten, 58 Euro

Die Erkenntnis, dass so etwas mit komponierten Noten zu erreichen sei, war für Braxton der Türöffner. Seine erste Eigenkomposition 1968 wirkte wie ein Weiterimprovisieren auf den Spuren Schönbergs, ab hier begann Braxtons individuelle Suche nach einem spezifischen Spielraum zwischen Improvisation und Komposition.

Übergang von Neuer Musik zu Jazz

Heute kann man in ihm einen Avantgardisten einiger der spannendsten Entwicklungen derzeit erkennen, nämlich den fließenden Übergängen zwischen Neuer Musik und Jazz. ­Hoyer deutet viele Fragen, wie die nach der Genese eines Künstlers und deren psychische Implikationen, nur an. Er hält sich auch meistens dabei zurück, die Wirkung einzelner Braxton-Stücke zu beschreiben.

Sachliche Benennung scheint hier die beste Strategie zu sein, um Fallen zu umgehen: die repetitiven Strukturen bei Braxton, die „transtemporale Trancemusik“ oder Skizzierungen, die vom Komponisten selbst stammen – von der „co-ordinate Music“ bis zur „Tri-Centric-Music“.

Braxton hat sich nach dem Vertragsende bei Arista trotz etlicher finanzieller Krisen entschlossen, auf seinem eigenen Label die Produktion von Musik in die eigene Hand zu nehmen. In Westdeutschland gibt es dafür einen Vorreiter: das Plattenlabel FMP („Free Music Production“).

Die herausragenden Protagonisten der Free-Jazz-Szene Westdeutschlands und Westberlins wie Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach taten sich dafür zusammen, und mit dem Album „European Echoes“ einer Großband um Manfred Schoof begann 1969 eine aufsehenerregende Geschichte.

Umfangreicher Katalog zur Berliner Freejazzszene

In den Jahren 2017 und 2018 kuratierte Markus Müller in München und Berlin eine Ausstellung dazu, jetzt liefert er den umfangreichen Katalog nach. „FMP: The Living Music“ lebt von den zahlreichen Dokumenten, den Konzertplakaten und Programmzetteln, den Plattencovern und Fotografien. In manchen Fällen verselbstständigt sich allerdings das eigene grafische Kunstwollen, und die Vorliebe für unscharf gemachte Aufnahmen und andere kreative Eigenleistungen wirkt eher kontraproduktiv.

Dennoch tritt einem, nicht zuletzt durch das großzügige Format, die Atmosphäre dieser Aufbruchjahre oft unmittelbar entgegen. Dazu gibt es kurze „Statements“ einzelner Mu­si­ke­r:in­nen und zwei lange, grundsätzliche Interviews: eines von Markus Müller mit dem FMP-Kopf Jost Gebers, ein Essay von Diedrich Diederichsen über ­Cecil Taylor, dessen elfteilige CD-Box 1988 einen der Höhepunkte im FMP-Œuvre darstellt.

Es ist aufschlussreich, die Erfahrungen von Anthony Braxton und Jost Gebers zusammen zu lesen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welches Risiko diese konzeptionellen Grenzüberschreiter eingingen. Der Abgrund hatte viele Erscheinungsformen und war ständig gegenwärtig, und manche Einspielungen stellten sich ihm geradezu provokativ entgegen.

Zu den großen Leistungen von FMP gehörte es, die unbemerkt in der DDR entstehende Szene von neuen Jazz-Musikern zu fördern und in Westberlin auf Platte zu bannen: „Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil“ der sich später „Zentralquartett“ nennenden Musiker erwies sich als ein Meilenstein.

Der schwedische Drummer (und bildende Künstler) Sven-Åke Johansson, ein früher Freejazz-Protagonist, auch er hat auf FMP-Alben mitgewirkt, hat jetzt einen Band mit Fotografien veröffentlicht, die er zwischen 1967 und 1982 auf seinen Touren mit verschiedenen Bands durch die Welt machte. Der damalige Ostblock spielt dabei auch eine Rolle, und nicht nur dies ist eine Verbindung zum FMP-Katalog: Zu Johanssons beredtesten Fotos gehört eines, das ihn mit Alexander von Schlippenbach zeigt. Dieser, preußisch streng, scheint die Ernsthaftigkeit seiner künstlerischen Anstrengungen auch äußerlich zu repräsentieren. Johannson dagegen wirkt in seinen kurzen Hosen wie ein Lausbub, der gewillt ist, die Szene auf andere Weise aufzumischen.

Sein eigenes Fotobuch jedoch erfüllt genau denselben Kunstanspruch, den von Schlippenbach für sich reklamiert. Da wird der Geist dieser Musik eingefangen: Alltagsfotos von unterwegs, Industriebrachen und Autobahnskizzen, Straßenbilder und Hausinschriften rekonstruieren tatsächlich „eine vergangene Zeit“, wie es der Titel verspricht, und fügen ihr dadurch etwas Neues, Anderes hinzu – etwas, das man offensichtlich nicht so leicht mit Worten, aber umso besser mit Musik und Bildern ausdrücken kann.

Anthony Braxton

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!