Neue Ausstellung im Varusschlacht-Museum: Panzer schützen nicht
Eine archäologische Sensation: „Cold Case – Tod eines Legionärs“ in Kalkriese ist um den 2018 ausgegrabenen römischen Schienenpanzer herum gebaut.
Soghaft ist das. Wer sich inspirieren lässt, die eigentliche Eingangstür öffnet, steht vor einer Transportkiste. In ihr ist er aufbewahrt worden, der römische Schienenpanzer, um den sich hier im Varusschlacht-Museum gerade alles dreht: eingegipst, mit Bauschaum umpolstert, zum Schutz vor Erschütterungen, lag er darin. Er ist, 2018 im niedersächsischen Kalkriese ausgegraben, der kompletteste seiner Art, weltweit. Und der älteste. Ein imposanter Anblick.
Die Sonderausstellung „Cold Case – Tod eines Legionärs“ des Museums bei Osnabrück ist als Spurensuche inszeniert, als Rätsel, als potenzieller Kriminalfall: Warum blieb der Panzer auf dem geplünderten Schlachtfeld zurück, vor mehr als 2000 Jahren? Ist es Zufall, dass in seiner Nähe eine Halsgeige gefunden wurde, ein römisches Fesselungsinstrument? Wurde hier ein überlebender Römer von den siegreichen Germanen gebunden und rituell drapiert, als Zeichen des Triumphs?
Die Ausstellung behauptet nicht, die Wahrheit zu kennen. Sie beschränkt sich auf Ermittlungen, Indizien, Hypothesen. „Neue Redlichkeit“ sagt Archäologe Stefan Burmeister dazu, der Geschäftsführer des Museums. Das hat unter ihm einen Paradigmenwechsel erlebt, dessen Ziel die Reform der Dauerausstellung ist. Jahrzehntelang war in Kalkriese der Schlachtverlauf falsch erklärt worden, obwohl man es hätte besser wissen können – wie auch die taz seinerzeit schrieb.
„Cold Case – Tod eines Legionärs“, Varusschlacht Museum Kalkriese. Bis 5. 11.
Damals stand hier jedoch eine möglichst spektakuläre Geschichte höher im Kurs als nüchterne, ergebnisoffene Wissenschaft. Heute steht im Faltblatt von „Cold Case“ programmatisch: „Wir drücken uns nicht vor einer endgültigen Entscheidung, aber wir sagen auch, was wir (noch) nicht wissen.“ Gut so. „Cold Case“ richtet den Blick auch auf ein Individualschicksal, nicht nur auf einen Gegenstand. Lebendig spiegelt die Schau die Spannung, die der Fund im Kalkrieser Team ausgelöst hat. „So was elektrisiert dich ja total“, sagt Burmeister mit Blick auf den Park, in dem gerade ein paar Germanendarsteller ihre Speere im SUV verstauen.
Der Beginn von „Cold Case“, in laborhaftes Weiß getaucht, zeigt, warum es fünf Jahre gedauert hat, bis der Panzer für seine Präsentation bereit war, von der ersten Röntgenaufnahme bis zu den letzten Schritten der Restaurierung. Vom Sandstrahlen ist hier Rede, OP-Handschuhe sind zu sehen, ein Skalpell, eine Pinzette.
Und da ist er dann, der Panzer. „The One and Only“ steht dran. Der Schau, sonst teils brutal und morbide, tun solche Leichtigkeiten gut. Zeichnungen aus „Asterix bei den Belgiern“ haben dieselbe Wirkung. Auch ein Nachbau des Kalkrieser Sensationsfunds, der in der Netflix-Serie „Barbaren“ zum Einsatz kam. Augenzwinkernd zeigt ein Sportler in einem mit Zitterbild und Streifenflimmern auf alt getrimmten Film, dass man in einem Nachbau des Panzers Basketball spielen kann, an Ringen turnen.
Wer sich auf „Cold Case“ einlässt, braucht Zeit für 3-D-Animationen und virtuelle Begegnungen mit Mitgliedern des Kalkrieser Teams, Burmeister inklusive. Vergleichsfunde sind zu sehen, quer durch die Jahrhunderte und quer durch Europa, bis zum deutschen Infanterie-Körperpanzer von 1917. Es geht darum, warum und wie Schlachtfelder „zum kultischen Heiligtum“ werden und ob der Mensch dazu neigt, bei Rätseln wie dem von Kalkriese „grausame Erklärungsansätze für eher plausibel zu halten“. Das ist klug, kritisch, eingängig.
„Cold Case“ perspektiviert ins Gegenwärtige. Wer sich in den „Reflexionsraum“ wagt, eine enge, schwarze Kammer, erlebt das sehr schockhaft: Collagen hammerharter Filmsplitter branden auf uns ein. Wunden bluten, George Floyd erstickt, MMA-Kämpfer treten gegen Köpfe, Fleischstücke werden zerfetzt, Keanu Reeves schießt sich in „John Wick: Chapter 2“ durch die Ausstellung „Reflections of the Soul“. Dazwischen weißes Rauschen, wie eine Folter. Stark ist das. Auch der Blick auf die zerstörte Panzertür eines Dingo-MRAP von Fallschirmjägern der Bundeswehr macht nachdenklich, 2010 in Afghanistan auf dem Gefechtsfeld zurückgeblieben, manövrierunfähig nach einer Sprengfallendetonation.
Die Schau macht alles richtig: Medieneinsatz und Exponate sind gut austariert. Nichts ermüdet. Jede Speerspitze, jede Dolchscheide regt zur Betrachtung an. Auch die Videos, in denen Experten ihren ganz eigenen Blick auf das Thema werfen, vom Militärhistoriker bis zum Psychoanalytiker, von der Krimiautorin bis zum Afghanistanveteran, lohnen sich sehr. „Cold Case“ macht Lust auf Archäologie. Das ist ein großes Verdienst.
Vor dem Ausgang steht uns der Legionär dann selbst gegenüber, als imaginäres Röntgenbild. Seine Hände sind frei, und zugleich sind sie gefesselt. Wie wir ihn sehen, kommt auf unsere Blickperspektive an. Deutlicher geht es nicht. Wer will, kann seine eigene Sicht zu Panzer und Halsgeige preisgeben. Einer der ersten Vorschläge, gleich am Eröffnungstag: „Hat ein Römer geistesgegenwärtig gehandelt, den Panzer abgelegt im Chaos der Schlacht, und ist, als Germane verkleidet, geflohen? Ein Happy End? Wieso nicht!“ Eigentlich eine schöne Vorstellung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus