piwik no script img

Neubau Volkstheater MünchenDas Schauspiel am Schlachthof

In München erhält das Volkstheater einen Neubau. Das ist selten geworden. Belebt wird damit das Viertel am Schlachthof. Ein Baustellenbesuch.

Vor dem Eingang des Neubau wird an der Pflasterung gearbeitet Foto: Peter Kneffel

Jäh zerreisst ein Schrei die Luft, Angst, Schmerz, die Richtung ist nicht zu bestimmen, ein Schrei, kein Blöken, Grunzen oder Muhen. Die Straßen sind hier dicht befahren, alle Parkplätze belegt, die Menschen maskiert, nicht alle.

Hier, neben dem Schlachthof, aus dem der Laut kam, etwas südwestlich der Münchner Stadtmitte, entsteht der derzeit modernste Theaterbau in Deutschland.

Und der künftige Hausherr nimmt die Breaking News direkt vorweg: „Wir liegen im Zeit- und Kostenplan.“ Christian Stückl, Intendant am Volkstheater, stellt das nicht als Triumph hin, sondern wie eine Selbstverständlichkeit fest, ganz so, als hätte es das Flughafendebakel um BER, die Kostenexplosion bei der Elbphilharmonie und coronabedingte Lieferengpässe nie gegeben. Ein deutsches Bauwerk wird fristgemäß fertig. Am 15. Oktober 2021 öffnen die Tore. Und 135 Millionen wird der Neubau gekostet haben. Eine ziemlich punktgenaue Landung.

„Wir haben sofort nach der Freigabe angefangen zu bauen und sind jetzt fertig, das war unser Glück“, sagt der Intendant, dessen Vertrag bis 2025 verlängert wurde. Jetzt, in der Zeit mit Corona und dadurch bedingten Verzögerungen, denkt er, wäre das sicher alles viel komplizierter geworden.

Das Grundstück hinter dem Schlachthof war Stückls Wunschort: „Ein Schlachthof gehört ins Stadtleben“, meint er, „jedenfalls besser als an den Stadtrand.“ Und ebenso verhält es sich mit einem Theater. Einen Platz draußen in Freimann hatte Stückl zunächst abgelehnt.

Cafés, Biergärten und Verfall

Im Schlachthofviertel aber gleicht München dem Wedding in Berlin, und der New Yorker Meatpacking District ist auch kein ganz so weit entfernter Ort: Das Straßenbild prägen Metzgereien, Klinkerbauten, Neonreklamen über halb verfallenen Läden. Cafés wetteifern um den besten Hafermilch-Matcha und im Coronasommer 2020 belegten „Schanigärten“, also Pop-up-Biergärten, die Gehwege.

Alternative Konzerte finden hier statt. Graffiti ranken sich an Fassaden in die Höhe wie im Vorort das Weinlaub. Das Leiden und Sterben der Tiere ist hier Teil des Großstadtlebens – so, wie der „Boandlkramer“ (Bairisch für Tod) eine tragende Figur in Christian Stückls berühmter Inszenierung des „Brandner Kaspar“ ist.

Das Areal hat 63.000 Quadratmeter, von denen das neue Theater 14.000 Quadratmeter belegt. Der denkmalgeschützte Verwaltungsbau der Viehbank, ein kleines Gebäude, wurde von der Planungsbürogemeinschaft um die Firma Georg Reisch aus dem oberschwäbischen Bad Saulgau in das neue Bauwerk integriert. Der Stuttgarter Architekt Arno Lederer übersetzte ein 1.000-seitiges Nutzer-Bedarfsprofil, das das Theater mit dem Baureferat der Stadt erstellt hatte, in ein Gebäude. Drin stand, wie viele Bühnen es geben sollte, dass eine Gastronomie, ein Biergarten und eine Kindertagesstätte nötig wären.

Tatsächlich erinnert der Innenhof des Neubaus schon heute fast an die griechische Agora, den zentralen Kulturplatz im Herzen der „Polis“, auf dem Feste, Versammlungen, Theaterstücke und ein Markt gleichermaßen abgehalten wurden.

Der Neubau

Sommer 2018 – Die Baugrube wird ausgehoben (August)

Winter 2018 – Die Bodenplatte ist betoniert (Dezember)

Frühjahr 2019 – Der Rohbau des Unter- und Erdgeschosses stehen (Mai)

Frühjahr 2020 – Der Rohbau des Bühnenturms ist abgeschlossen (Februar, siehe Fotos)

Sommer 2020 – Die Fassade ist fertiggestellt (Mai) und der Bühnenturm verglast (August)

Frühjahr 2021 – Abschluss der Bühnentechnik und Übergabe des Neubaus

Herbst 2021 – Die Eröffnung des neuen Volkstheaters ist für Oktober geplant. Noch steht der Zeitplan.

Es ist ein Neubeginn, auch künstlerisch. Nahezu 40 Jahre residierte das Volkstheater in der noblen, aufgeräumten Briennerstraße – als Mieter. Die ursprünglich als Mehrzweckhalle gedachten Theaterräume im Haus des Sports entwickelten sich zur Dauer-Behelfslösung – und blieben dabei doch immer eine „Turnhalle“, wie Stückl heute sagt. Dann wurde eine Sanierung fällig. Und als der Kostenvoranschlag auf 50 Millionen Euro anschwoll, hatte der Intendant letztlich schnell die Politik bei der Idee eines Neubaus auf seiner Seite. „Es war leicht, den Stadtrat zu überzeugen, nicht 50 Millionen in ein Haus zu investieren, das uns am Ende nicht gehört“, sagt er.

Die Erweiterung der Kammerspiele, des zweiten großen Theaters der Stadt, um ein Werkraumtheater und ein „Neues Haus“ lag da schon Jahrzehnte zurück (Bauzeit 1997–2003).

Mehr Raum, neue Perspektiven

Durch einen dunklen Gang geht es über eine Betontreppe in die oberen Stockwerke. Noch hängen von den Decken lange Kabel. Das neue Volkstheater bietet mehr Raum. Alle Etagen zusammengenommen ergeben 26.000 Quadratmeter Fläche. Bis zu 1.000 Zuschauer sollen in den vier Spielstätten (drei Bühnen, ein Raum für Konzerte) Platz finden, allein 600 davon vor der Hauptbühne. Der Zuschauerraum ist eigens in die Breite gezogen, um das Publikum nicht zu weit in die Tiefe setzen zu müssen. Auf Balkone wurde – nach langer Diskussion, erzählt Stückl – verzichtet. Zwei große Probebühnen hat das Haus zusätzlich.

Die neue Technik und die kurzen Wege – Schreinerei und Lager liegen nebenein­ander, beide in direkter Nähe zu allen Bühnen – ermöglichen schnelle Szenenwechsel. Eine neue Hebebühnentechnik und ein Orchestergraben schaffen buchstäblich Raum für neue künstlerische Konzepte.

Die kreativen Möglichkeiten des neuen Hauses sieht Stückl allerdings vor allem als Spielwiese für junge Gastregisseure an: „Ich selbst werde mich nicht mehr ganz neu erfinden können“, sagt der 59-Jährige. Aber er freue sich auf junge Kolleginnen und Kollegen, deren Fantasie und Visionen.

Christian Stückl bei der Baustellen-Führung Foto: Johanna Schmeller

Zwei der jungen Regisseure, mit denen Stückl die Eröffnungswoche Mitte Oktober bestreiten will, stehen bereits fest: Da ist zum einen der 1987 in Berlin geborene Dramatiker Bonn Park, dessen Stücke zwischenmenschliche Konflikte verhandeln und – teils digitale – Gesellschaftsutopien entwerfen.

Zum anderen wird Jessica Glause einmal öfter nach München reisen, die mit 40 Jahren „neben mir die älteste“ der fünf Eröffnungskandidaten sein wird. Glause kennt die Theater der bayerischen Landeshauptstadt gut: Sie inszenierte auch für die Kammerspiele und für die Bayerische Staatsoper. Für das Volkstheater hat sie unter anderem „Und jetzt die Welt!“ (2015) von Sybille Berg umgesetzt.

Gastwohnungen und Kindertagesstätte

In der Spielzeit 2021/2022, der ersten im neuen Haus, sollen insgesamt 13 neue Produktionen entstehen. Derzeit sind es etwa zehn Inszenierungen pro Spielzeit. Die Auslastung des alten Theaters lag in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt bei 85 Prozent, beim Festival für junge Regie „Radikal jung“ bei 95 Prozent. Dann kam die Pandemie.

„Ich bin froh, dass wir den Sommer 2020 über durchgespielt haben“, sagt Stückl. Andere Münchner Theater leiden noch schwerer unter den Folgen der pandemiebedingten Einschränkungen, die sie nach der zweiten Spielzeit im Frühjahr 2020 nun auch die erste im Herbst 2021 gekostet haben. Als städtisches Theater hatte das Volkstheater bislang die Möglichkeit, freie Mitarbeiter für vereinbarte, aber ausgefallene Vorstellungen zu bezahlen.

Der neue Bau trägt dem jungen Ensemble Rechnung: Im Seitengebäude sind Schauspielerwohnungen für Gäste von außerhalb. Im Erdgeschoss wird eine Kindertagesstätte integriert. „Manchmal“, sagt Stückl und grinst, „komme ich mir ja schon vor wie Bischof Tebartz-van Elst, als er sich seinen Dom gebaut hat.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!