Neuausgabe Kathy Acker: Die wilde Heldin
Endlich wird ein Fehlurteil revidiert: „Bis aufs Blut“, Kathy Ackers Underground-Klassiker, erscheint in einer Neuausgabe.
![Die Autorin Kathy Acker in Rückenansicht. Auf ihren Rücken ist ein großer Fisch und Pflanzen tätowiert. Die Autorin Kathy Acker in Rückenansicht. Auf ihren Rücken ist ein großer Fisch und Pflanzen tätowiert.](https://taz.de/picture/5618239/14/Maerz-Kathy-Acker-c-Kathy-Brew-1.jpg)
Janey Smith, die Anti-Heldin aus Kathy Ackers „Blood and Guts in Highschool“, ist Punk. Gerade mal zehn Jahre alt, hat sie ein Verhältnis mit ihrem Vater, aber der will sie loswerden und schickt sie auf eine heruntergekommen Schule im New Yorker East Village.
Janey jobbt in einer Hippie-Bäckerei, hasst die Vollwert-Heuchelei und die Kunden noch viel mehr, nimmt allerhand Drogen, treibt sich mit einer gewalttätigen Straßengang herum, randaliert, raubt und plündert, bis fast alle Bandenmitglieder bei einer Verfolgungsjagd draufgehen. Sie lebt promiskuitiv, hat zwei Abtreibungen. Ihre grausam-klinischen Tagebuch-Aufzeichnungen zum ersten Eingriff, die ihre tiefe Traumatisierung offenbaren, gehören zu den eindrücklichsten Passagen des Romans.
Schließlich wird sie von Einbrechern verschleppt und landet im Gefängnis eines persischen Sklavenhändlers, der ihr zweimal am Tag aufwartet, um ihr beizubringen, wie man eine Hure wird. Aber hier findet sie auch Muße zum Schreiben.
Liebesgedichte für den Peiniger
Dass sie etwas später, krebskrank, in Tanger mit dem großen Zuchthaus-Literaten Jean Genet zusammentrifft und ihre letzten Tage verbringt, ist womöglich nur eine Fieber- und Fluchtfantasie. In Ermangelung eines Besseren verliebt sie sich in ihren persischen Peiniger, schreibt ihm Liebesgedichte, lernt seine Sprache, und mehr und mehr beginnt sich nun ihr Ich aufzulösen.
Kathy Ackers bereits 1978 erschienenes Romanexperiment wächst sich aus zu einer surrealen, den Leser fordernden Fuge, einer dissoziativen Text-Bild-Collage, die Pimmel- und Mösenbilder, Grundrisse von Maya-Gebäuden, „Traumkarten“, Höhlenmalereien und immer wieder Zitate beziehungsweise Plagiate hart aneinanderfügt.
„Bis aufs Blut. Zerfleischt in der Highschool“ ist ein frühes Beispiel transgressiven Schreibens im Zeichen weiblicher Selbstermächtigung. Die Ich-Erzählerin identifiziert sich mit der „wilden“ Heldin Hester Prynne aus Nathaniel Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“, die wegen ihres Ehebruchs aus der puritanischen Gesellschaft ausgestoßen wird.
Prynne ist für Janey der Archetyp einer emanzipierten, Lust und Laster auch gegen kollektive Widerstände voll auslebenden Rebellin. Und im Gegensatz zu Hawthorne darf Acker das jetzt auch voll ausschreiben.
Inzest, Pädophilie und ausgefallener Sex
Transgressiv ist dieses Buch aber nicht nur inhaltlich mit seinen vielen, Inzest, Pädophilie und allerlei ausgefallenen Sex beschreibenden „Stellen“, sondern nicht zuletzt formal. Acker spielt mit Avantgarde-Techniken der konkreten Poesie, des Cut-up, sie nutzt Text-Bild-Montagen der Surrealisten, collagiert fremde Texte und überschreibt sie. Später entwickelt sie daraus eine eigene Plagiatstheorie.
Kathy Acker: „Bis aufs Blut. Zerfleischt in der Highschool“. Aus dem Englischen von Johanna Davids. März Verlag, Berlin 2022, 212 Seiten, 34 Euro
Das Buch avanciert zu einem Underground-Klassiker in den USA, der 1985 in deutscher Übersetzung erscheint und den die Bundesprüftstelle für jugendgefährdende Schriften sofort auf den Index setzt. Die Gutachter torpedieren mit einiger argumentativer Perfidie die offensichtliche literarische Konstitution des Buches, um es zur Bückware zu degradieren. Der März-Verlag revidiert dieses Fehlurteil jetzt erfreulicherweise mit einer auch buchgestalterisch sehr schönen Neuübersetzung.
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