Netanjahu im Nahost-Konflikt: Den Moderaten eine Chance
Stimmen aus der Zivilgesellschaft fordern das friedliche jüdisch-arabische Miteinander in Nahost. Die „Hudna“, ein Nichtangriffspakt, wäre der erste Schritt dazu.
S eit dem letzten Krieg zwischen Israel und dem Gazastreifen macht sich in Israel die Haltung breit, Regierungschef Benjamin Netanjahu habe „keine Strategie“ und er habe die Entwicklungen aus eigenen politischen Erwägungen absichtlich in Richtung militärische Konfrontation gelenkt, damit letztendlich aber der Hamas einen „Sieg“ beschert.
Selbst wenn die Behauptung richtig ist und die Hamas euphorisch ihren „Sieg“ feiert, so erscheint die gesamte „strategische“ Diskussion und die Suche nach einem „Sieg“ grundlegend falsch. Denn es geht hier um einen militärischen Sicherheitsdiskurs anstelle einer politischen Debatte.
All jene, die Netanjahu Strategielosigkeit vorwerfen, denken schlicht, dass sie selbst die bessere Strategie verfolgen, um die Kontrolle Israels über die Palästinenser zu stärken und das Image Israels in der Welt und insbesondere in den Vereinigten Staaten zu verbessern.
Die augenscheinlich „moderaten“ Kritiker raten dazu, die Politik gegenüber der Hamas zu verschärfen, angefangen mit dem Unterbinden der finanziellen ausländischen Unterstützung, die den Gazastreifen in Form von „Koffern mit katarischen Dollars“ in bar erreicht. Ziel wäre, die Hamas finanziell auszutrocknen, um parallel die Beziehungen zu Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, alias Abu Masen, dem Chef der Autonomiebehörde im Westjordanland, zu intensivieren.
Mit den gemäßigten Gegnern zusammenarbeiten?
Das ist die gegensätzliche Politik zur der Netanjahus, der Abu Masen ignoriert. Die Hamas hingegen soll gestärkt werden. Es gibt trotzdem einen gemeinsamen Nenner der „strategischen“ Kritiker und Netanjahu. Beide Seiten gehen davon aus, dass das Prinzip von „teile und herrsche“ fortgesetzt werden müsse, sprich: die Belagerung von Gaza als wirksames Instrument zur Kontrolle der Palästinenser aufrechterhalten werden sollte. Dies ist eine typische interne Debatte für koloniale und diktatorische Regime.
Die Frage ist: Soll man mit den gemäßigten Gegnern zusammenarbeiten oder besser den Konflikt mit den Extremisten eskalieren lassen? Die sanfte, „gemäßigte“ Strategie der weichen Hand forcierte die israelische Armeeführung im Verlauf der 1. Intifada, nachdem sie zur Einsicht kam, dass eine militärische Lösung nicht möglich sei und deshalb eine politische Lösung gefunden werden müsse, die schließlich ihre Umsetzung im Osloer Friedensprozess fand.
Jitzchak Rabin, der wenige Jahre später von einem jüdischen Extremisten ermordete damalige israelische Regierungschef, ging davon aus, dass Jassir Arafat – ehemals Chef der PLO (Palästinensische Befreiungsbewegung) weder ein Verfassungsgericht noch Menschenrechtsorganisationen zu fürchten habe und deshalb die Hamas leichter zur Aufgabe zwingen könne, als es für Israel möglich sei.
Netanjahu erfand nichts Neues, weder das „Teilen und Herrschen“ noch die Belagerung von Gaza, noch die gewaltsamen regelmäßigen militärischen Konfrontationen. Was Netanjahu doch erfand, ist eine Änderung der Prioritäten: die Hamas-Herrschaft zu unterstützen und Abu Masen auszutrocknen. Warum? Dafür gibt es drei Hauptgründe.
Zum Wohl aller Mitbürger
Erstens, weil es ihm die radikalsten Siedler in seiner Koalition vom Hals hält, die jeglichen Dialog oder Kompromiss mit der Palästinensischen Autonomiebehörde ablehnen, und weil es seine Stellung als ideologischen „rechten“ Führungspolitiker festigt; zweitens, weil Abu Masen gar keine andere Wahl hat, als mit der Israelischen Verteidigungsarmee zusammenzuarbeiten, will er seine Macht aufrechterhalten, und drittens, weil Israel der Hamas militärisch weit überlegen ist.
Professor für Soziologie und Anthropologie, lehrt an der Ben Gurion Universität in Beerschewa. Grinberg ist Präsident der Israeli Sociological Society und beschäftigt sich schwerpunktmäßig u.a. mit der Soziologie des israelisch-palästinensischen Konflikts sowie Widerstandsbewegungen gegen Diskriminierung.
Netanjahu gelang es dank dieser Strategie, politisch zu überleben. Es schafft Verzweiflung, Frustration und Angst, ein Gefühl der Hilflosigkeit, den Verlust jeglicher Hoffnung auf Veränderung. Dies ist der Stoff, aus dem Netanjahus politische Herrschaft gemacht ist. Nun aber scheint es, dass Netanjahu diesmal vielleicht doch zu weit gegangen ist.
Im Gegensatz zu den Reaktionen der Verzweiflung und Feindseligkeit der jüdischen Öffentlichkeit bei jedem gewaltsamen Ausbruch forderten die Stimmen der Zivilgesellschaft diesmal den Dialog, die jüdisch-arabische Kooperation und das friedliche Miteinander. Davon zeugen Demonstrationen von Juden und Arabern gegen Gewalt, Hetze und Rassismus. Diese Stimmen haben noch keine klare politische Alternative oder einen alternativen Diskurs zum strategischen Sicherheitsdiskurs.
Jetzt gilt es in kleinen Schritten voranzuschreiten, angefangen mit einem Nichtangriffsabkommen, im Sinne des arabischen Begriffs „Hudna“. Ein Ende der Belagerung des Gazastreifens, Bewegungsfreiheit, Handel zwischen Familie und Freunden im Westjordanland könnten die nächsten Schritte sein. Das Siedlungsprojekt, mit dem Palästinenser im Westjordanland, in Ostjerusalem und innerhalb Israels selbst in Jaffa, Lod, Galiläa und Negev vertrieben werden sollen, muss gestoppt werden.
Der Konflikt ist über 100 Jahre alt. Höchste Zeit, das militärstrategische Denken zu beenden, wie der Staat Israel seine Kontrolle über die Palästinenser ausbauen kann, sondern politische Lösungen zu suchen, wie dieser Ort zum Wohl aller Mitbürger gemeinsam gestaltet werden kann.
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