Neneh Cherry im Berghain: Per Rakete in die Schwerelosigkeit
Die Stilikone der 80er Jahre ist zurück: Neneh Cherry stellte ihr neues Album vor. Das Konzert war so wuchtig, dass das Publikum schrie – vor Glück.
„We started in a small room and now we ended up in the temple of rave.“ So begrüßt Neneh Cherry ein sehnsüchtig wartendes Publikum Donnerstagnacht im ausverkauften Berghain. Und was sie da von der kleinen Bühne aus in gut zwei Stunden veranstaltet, ist ein wahrhafter Rave, ein Rausch, erzeugt durch ihre so warme wie wütende Stimme, ihre von ihr selbst kaum zu bändigende Energie, ihr alle einnehmendes Lachen, ihren ganz in Orange gehüllten Körper, ihre strahlende Schönheit.
Neneh Cherry – die „Raw-like-Sushi“-Stilikone für uns, die wir in den 80ern zu Teenagern wurden – stellt ihr Album „Blank Project“ vor, ihr erstes Soloalbum seit 18 Jahren. Selbst wer das vorab nur so lauwarm fand, musste nach diesem Abend zugeben: Diese Lady ist immer noch heiß.
Irgendwann fühlt es sich so an, als müsse der riesige Tempel gleich explodieren. Es wird immer enger. Neneh Cherrys ganze Körperlichkeit scheint in den Raum zu drängen. Noch ein „Uoh Uoh“ und ein „Yeah Yeah“, und die Leute fangen an zu schreien – vor Glück. Und das, obwohl sie nicht von wolkigem Glück, sondern von Depressionen, Ängsten, Beziehungsschmerzen, Tod und Unglück singt.
Die Göttin öffnet die Haare
Etwa in der Mitte des Konzerts erlöst sie uns mit dem Stück „Weightless“. Eingerahmt von den beiden mit Sticks und Tasten schlagzeugenden Musikern von Rocketnumbernine, hüpft sie, immer schwereloser werdend, zu den immer rasender werdenden Beats, bis sie in der Luft zu schweben scheint. Spätestens hier löst sich der Tempel von der Erde, die Göttin öffnet ihre Haare.
Es glitzert und funkelt nicht mehr nur von ihren beringten Fingern, es funkelt in allen Zuhöreraugen. Wer jetzt noch keine tiefen Stiche im Herzen gespürt hatte, hat kein Herz, und wenn doch, musste es spätestens bei „Dossier“ übergehen, das vom Beginn einer Verliebtheit und ihrem Ende erzählt und von dem sie verriet, dass es ein bisschen um ihre Tochter geht.
Nur von Neneh Cherrys Stimme getragen und im Chorus von höllisch treibenden Beats nach vorne stürzend, dreht und hüpft sie nicht mehr, sondern tritt symbolisch in die Luft und geht danach hochsexy in die Knie. Alle Songs hatte sie bisher so lange ausgesungen, wie der Schlagzeuger mithalten konnte – aber jetzt lässt sie nicht mehr los und rappt sicher ganze zwei Minuten, ohne Atem zu holen. „Im going to be fuckin fifty on monday“, lacht sie dann. „But it feels good to be fifty on the shoulders of Rocketnumbernine.“ Dass sie als Zugabe tatsächlich noch „Buffalo Stance“ in einer verfrickelt tanzuntauglichen Version gibt, wäre gar nicht nötig gewesen.
Mit fucking fifty ist Neneh Cherry die hinreißendste Rakete, von der man sich immer wieder in die Schwerelosigkeit schießen lassen möchte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit