Naturschutz in Europa: Die wilden „Big 7“
Die Initiative „Rewilding Europe“ schafft es, dass Menschen Elche und Bären in ihrer Nachbarschaft wollen. Bald auch in Deutschland?
SALAMANCA / BERLIN taz | Der alte Schlachtplatz ist heute ein guter Ort für Touristen. Spanien, genauer: die Dehesa in der Provinz Salamanca. Der Schäfer, der mit seiner Herde durch die Stein- und Korkeichenwälder zieht, bringt zu diesem Platz die toten Tiere her, die er auf seinem Weg findet. Die Geier freut der Tod. Sie reißen sich um die Kadaver. Jahrelang wurden sie an Tausenden solcher „Muladares“ in Spanien oder Portugal mit Aas versorgt: Die Viehzüchter legten dort die toten Weidetiere ab, Rinder, Schafe, Ziegen.
Doch dann machte die Rinderseuche BSE die Welt verrückt. Die Europäische Kommission forderte neue Hygienevorschriften und die „umgehende“ Beseitigung aller Kadaver. Den Entsorgungsauftrag der Geier übernahmen fortan Tierkörperbeseitigungsanlagen. Die Zwangsdiät tat den Geiern nicht gut. Als die EU dies erkannte, ersann sie Ausnahmen für die „Fütterung gefährdeter oder geschützter Arten Aas fressender Vögel“. Seither gibt es wieder Futterplätze.
Und der eine oder andere Schindanger soll nun einen neuen Reiz bekommen – für den Menschen. Denn ihm bieten sie einen guten Blick auf die abscheulichen, aber zugleich majestätischen Aasfresser. Es sind neue Beobachtungsposten. Sie gehören zu einer Initiative, die sich „Rewilding Europe“ nennt und dafür sorgen will, dass einzelne Landstriche in Europa sich mehr und mehr selbst überlassen werden.
Umweltschützer wollen es nicht nur in Spanien und Portugal wild zugehen lassen, sondern auch in Italien und Kroatien, in Polen, der Slowakei und Rumänien. Dahinter stehen: der WWF Niederlande, die niederländische Ark Nature Foundation, die Investfirma Conservation Capital und das durch ihre beeindruckenden Naturfotos bekannt gewordene Naturschutzprojekt Wild Wonders of Europe (WWE). Einer der Initiatoren ist der schwedische Fotograf und WWE-Direktor Staffan Widstrand.
Flächen zur langfristigen Nutzung überlassen
Ihr gemeinsames Ziel: Zehn Regionen, eine Million Hektar Wildnis bis 2020. Jagen und Fischen soll bis auf einige Ruhezonen dabei weiter möglich sein. Vor drei Jahren haben sie mit ihrer Arbeit begonnen. Ihre Idee: Kein Gesetz, keine Verordnung – die Regionen entscheiden von allein, wilder zu werden.
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Wer die erbitterten Auseinandersetzungen etwa zwischen Befürwortern und Gegnern des Nationalparks Wattenmeer in den achtziger Jahren an der Nordseeküste oder um den Nordschwarzwald im letzten Jahr vor Augen hat, zweifelt daran, dass eine Gemeinde die Frage: „Wollt ihr eure Fläche nicht dem Naturschutz zur Verfügung stellen?“ so einfach mit „Ja“ beantwortet. Doch sechsmal hatten die „Rewilder“ schon Erfolg, in sechs Regionen haben die Landbesitzer ihnen schon Flächen zur langfristigen Nutzung überlassen, andere wollen es ihnen nach tun. Es sind oft gottverlassene Gegenden, in denen Handys keinen Empfang haben, in denen leere Straßen zu Dörfern führen, aus denen die jungen Leute längst geflüchtet sind, in denen Vögel in großen Seen nach Fischen suchen oder Wildpferde galoppieren.
Am Ende zählt „unsere Überzeugungskraft“, sagt Ulrich Stöcker von der Deutschen Umwelthilfe. Er will helfen, Rewilding Europe mit voranzubringen. Eines der Argumente: „In Finnland bringt der Bärentourismus schon heute mehr ein als die Jagdsafari.“ Die Gemeinden vor Ort bekämen für die notwendige Infrastruktur, für Unterkünfte oder Plätze für regionaltypisches Essen, den „einen oder anderen Kredit“ – und Rewilding Europe viel Unterstützung. So hat die niederländische „Postcode“-Lotterie zum Beispiel mehrere Millionen Euro gegeben.
Reisen in die neue Wildnis
Rewilding Europe vermarktet schon heute über seine Webseite Reisen in die neue Wildnis. Den Machern in der Zentrale im niederländischen Nijmegen geht es nicht um Naturromantik. Sie verfolgen einen neuen Ansatz in der Naturschutzpolitik: Sie wollen es mit ökonomischem Erfolg verbinden, dass Auerochsen, Elche und Wildpferde wieder durch die Landschaft ziehen – ohne Geld der Steuerzahler.
Das Stettiner Haff ist die nächste Region, die die Umweltschützer von Rewilding Europe im Blick haben. Dort wo die Oder in die Ostsee mündet, liegt ein urwüchsiger Landstrich, der bisher wenig bekannt ist. Ob er tatsächlich zu den Wildnisgebieten aufrücken wird, soll im November entschieden werden. Damit auch die privaten Landeigner mitmachen, müssen die Naturschützer ordentliche Einkünfte vorweisen können. Deshalb wird zunächst geklärt werden, ob genug Besucher angelockt werden können und eine Haff-Safari machbar ist.
Die „Big 7“ des Nordens und Ostens sind in der Region zu Hause: Biber, Elch, Kegelrobbe, Lachs, Seeadler, Wisent und Wolf. Die Wildnis ist nah.
Der Text stammt aus der neuen ZEO 2, dem vierteljährlichen Umweltmagazin aus dem Hause taz, seit dieser Woche am Kiosk für 5,50 Euro. Titelthema: Ökokonflikte in der Liebe.
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