Nato-Gipfel in Wales: Kein Streit dank Putin
Die gescheiterte Afghanistan-Mission hätte Thema des Gipfels sein sollen. Wegen Russlands Aggression in der Ukraine wird es erneut vertagt.
GENF taz | Am heutigen Donnerstag wird Russland Präsident Wladimir Putin beim Nato-Gipfel im walisischen Newport den Verdienstorden der westlichen Militärallianz erhalten – für besondere Verdienste um den Zusammenhalt und die Entschlossenheit. Dann wird Putins ukrainischer Amtskollege Petro Poroschenko eine Laudatio halten – im Rahmen eines festlichen Essens der Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsminister der 28 Nato-Mitgliedsstaaten.
Diese Szene ist frei erfunden. Das ändert nichts daran, dass sich der Gipfel ohne die völkerrechtswidrige hybride Kriegführung russischer Truppen in der Ostukraine und die ebenfalls völkerrechtswidrige und mit militärischer Gewalt herbeigeführte Annexion der Krim durch Russland im März dieses Jahres mit dem ursprünglich geplanten Thema beschäftigen müsste: der gescheiterten Mission in Afghanistan.
Deren längst überfällige selbstkritische Aufarbeitung kann nun ein weiteres Mal verschoben werden – möglicherweise auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Stattdessen wird der neue Kalte Krieg mit Moskau das Treffen beherrschen.
Hier wäre einiges zu diskutieren: Inwieweit etwa hat die seit Mitte der 1990er Jahre betriebene Nato-Osterweiterung zum heutigen Verhalten der russischen Regierung beigetragen? Welchen Anteil an der Eskalation des Konflikts mit Moskau hat die Ukrainepolitik, die die zu 90 Prozent identischen Mitgliedsstaaten des Bündnisses und der EU in den letzten zehn Jahren betrieben haben? Sind die von den USA und der EU verhängten Sanktionen geeignet, Russland zu einer Verhaltensänderung zu bewegen? Und schließlich: Was müssten und könnten Nato-/EU-Staaten und Ukraine dazu beitragen, den Konflikt zu deeskalieren und Putin einen Ausstieg aus seiner Aggressionspolitik zu ermöglichen, der ihn das Gesicht wahren lässt?
Absehbare Reaktionen
Zu all dem wird in Wales nichts zu hören sein. Stattdessen werden die Nato-Politiker Einigkeit und Entschlossenheit demonstrieren – und angesichts der neuen Bedrohung vor allem militärische Maßnahmen verkünden. Maßnahmen, die in erster Linie zur Beruhigung Polens und der baltischen Staaten dienen.
Für den dänischen Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, einen Kalten Krieger par excellence, der am 1. Oktober von dem weit bedächtigeren Norweger Jens Stoltenberg abgelöst wird, bietet der Gipfel eine letzte Gelegenheit zum säbelrasselnden Auftritt vor Kameras und Mikrofonen aus aller Welt. Letzte Woche gab Rasmussen in Interviews mit mehreren Zeitungen bereits Kostproben der zu erwartenden Gipfelrhetorik. Lieblingsbegriff: „Speerspitze“.
Mit einer solchen von bis zu zusätzlichen 4.000 Soldaten will Rasmussen die 2004 gegründete schnelle Eingreiftruppe Nato Response Force (NRF) verstärken. Sie soll, unterstützt von Luft- und Seestreitkräften, „in kürzester Zeit einsatzbereit sein, um die Mitgliedsstaaten in Osteuropa „vor einer Aggression Russlands zu schützen“. Gebildet werden soll die neue Truppe durch rotierende Verbände der Nato-Staaten. Deren Botschafter im Brüsseler Hauptquartier der Allianz stimmten Rasmussens Vorschlag in einer letzte Woche beschlossenen Gipfel-Vorlage bereits im Grundsatz zu. Genaue Details – darunter die heiklen Fragen der Kosten und des Kommandos – sollen anschließend ausgehandelt werden.
Ende der Beschränkungen
Dasselbe gilt für den im Grundsatz von den Botschaftern abgesegneten Plan, Waffendepots in Osteuropa anzulegen. Zudem sollen Nato-Streitkräfte die Erlaubnis bekommen, Flughäfen und Häfen zu benutzen. In fünf neuen Stützpunkten sollen sich nach Angaben eines hohen Nato-Vertreters gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung jeweils 300 bis 600 Soldaten aufhalten.
Diese sollen nicht ständig vor Ort sein, sondern rotieren. Angesichts des immer aggressiveren russischen Vorgehens in der Ukraine werden Polen, die baltischen Staaten sowie eventuell auch Kanada auf dem Gipfel möglicherweise erneut die ständige Stationierung von Truppen des westlichen Bündnisses auf ihren Territorien fordern – und eventuell auch die Kündigung der Nato-Russland-Gründungsakte. Das 1997 vereinbarte Papier legt der Nordatlantischen Allianz Beschränkungen bei Stationierungen auf dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks auf.
Bislang hatte eine Mehrheit der Mitglieder derartige Forderungen abgelehnt. Zur Finanzierung all dieser und anderer Vorhaben wird das Abschlusskommunique des Gipfels die Mitgliedsstaaten zu einer deutlichen Erhöhung ihrer Militärausgaben auffordern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind