Nationalpark Berchtesgaden: Aasökologie und Enkeltauglichkeit
Er ist nicht nur ein Reservoir der Biodiversität. Er will den Nachhaltigkeitsgedanken auch in die Region ausstrahlen und sanften Tourismus fördern.
Zwei Meter neunzig Spannweite gegenüber zu stehen ist ganz schön beeindruckend. Auch wenn es sich nur um eine Abbildung in Lebensgröße handelt – nicht um einen der Vögel selbst. Es ist der Bartgeier, dem man hier im Berchtesgadener Land einen eigenen Themenpfad gewidmet hat. Wanderer erreichen den beispielsweise auf der Rundwanderung vom Klausbachhaus beim Bergsteigerdorf Ramsau aus über den Böslsteig zur Halsalm. Durch die bereitgestellten Fernrohre ist rund 800 Meter weiter die Felsnische am Knittelhorn zu sehen, in der sich seit Juni die jungen Bartgeierweibchen Dagmar und Recka an das Leben in der Wildnis gewöhnen sollen.
Das Projekt, das im vergangenen Jahr mit der Freilassung ihrer Vorgängerinnen Wally und Bavaria begonnen hat, ist eine der populärsten Aktionen der im Nationalpark Berchtesgaden arbeitenden Forscher:innen. Von überall auf der Welt werden die Webcams angeklickt, die Livebilder von den Tieren zeigen, aber viele Interessierte machen sich auch selbst hierher auf. Teilnehmer:innen an Nationalparksführungen hätten erzählt, sie seien nur wegen der Geierweibchen gekommen, sagt Ulrich Brendel. Er ist stellvertretender Leiter des Nationalparks und weiß, wie wichtig solche Projekte für den Artenschutz sind – aber auch für die öffentliche Wahrnehmung des Nationalparks und damit für dessen Botschaften.
Deshalb werden die Auswilderungen der großen Greifvögel weitergehen, bis es eine stabile Population gibt. Trivial ist das nicht: Wally hat ihren ersten Winter draußen nicht überlebt. Ende Mai fand ein Kletterteam in einer unzugänglichen Felsrinne im Zugspitzmassiv auf 1.500 Metern Höhe Knochen, Federn, Ring und ihren GPS-Sender. Steinschlag, vermuten die Wissenschaftler:innen, die neben dem Geierprojekt auch andere Pläne haben: Sie wollen die Ökologie von Aas erforschen.
Obzwar die Wirkung von Totholz auf verschiedene Ökotope gut erforscht ist, weiß man wenig darüber, was tote Tiere ausmachen – also etwa, ob mehr verwesende Körper mehr Arten anlocken. „Bisher haben wir Kadaver oft eingesteint“, sagt Brendel. „Künftig werden wir sie liegen lassen.“ Während der Projektphase werde man womöglich auch tierische Verkehrsopfer in den Park legen und beobachten, wie sie das Ökosystem beeinflussen.
Brendel ist Diplombiologe und forscht vor allem zu Adlern. Klar, dass sein Hauptinteresse der Wissenschaft gilt. „Aber ein Nationalpark hat natürlich neben der Forschung und dem Naturschutz selbst noch andere Aufgaben“, sagt er. Zum Beispiel in der Umweltbildung – dazu gehören Fachexkursionen für Expert:innen, aber auch Wanderungen und Veranstaltungen für Einzelbesucher:innen und Kinder- und Jugendprogramme.
Und nicht zuletzt hat der Nationalpark eine Partnerinitiative gestartet, die als regionales Netzwerk mit Betrieben, Organisationen und Verbänden nachhaltiges Handeln vor Ort bündeln und weiterentwickeln will. „Wir strahlen auch auf die Region aus“, sagt Brendel. Deshalb arbeitet die Nationalparksverwaltung seit 2019 mit dem europäischen Umweltmanagementsystem EMAS und lässt sich regelmäßig von einem Prüfer attestieren, welche Fortschritte sie gemacht hat. „Das hat an manchen Stellen auch wehgetan“, erinnert sich Brendel. Schließlich gehe es nicht nur um den Papier-, Wasser- und Energieverbrauch in den Büros, sondern beispielsweise auch um die Elekrifizierung der Fahrzeuge – Motorboote, Allradautos, die als E-Version in den Bergen nur begrenzt einsetzbar sind. So wurden für die Forscher:innen auch E-Bikes angeschafft. „Die Bevölkerung versteht das nicht immer“, meint Brendel. „Aber wir müssen und wollen als Nationalpark erkennbar sein.“
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Eine vergleichbar deutliche Fokussierung auf Nachhaltigkeit kann die Region auch nach Meinung des Zweckverbands Bergerlebnis Berchtesgaden gut gebrauchen. Denn ähnlich wie Reiseziele an der Nord- und Ostsee ist sie zumindest in der Hauptsaison längst ein Beispiel des sogenannten Overtourismus. Als die Pandemiemaßnahmen Reisen ins Ausland praktisch unmöglich machten, eroberten – zusätzlich zum gut ausgebauten Übernachtungsgeschäft – auch Scharen von Tagesausflüglern die instagramtaugliche Naturkulisse um Königssee und Watzmann. Die Wanderparkplätze waren morgens um 8 Uhr voll, Blechlawinen stauten sich entlang der Zugangsstraßen, auch innerorts war teils kein Fortkommen – zumal auch die Deutsche Bahn hochwasserbedingte Baustellen zu stemmen hatte und die Anreise monatelang nur über Schienenersatzverkehr, sprich Busse, möglich war.
Der automobile Reiseverkehr ist nicht nur eine erhebliche Belastung für die ohnehin unter den Folgen des Klimawandels ächzende alpine Natur. Auch bei der einheimischen Bevölkerung löst er nur sehr begrenzt Begeisterung aus. Knapp 24.500 Einwohner:innen zählt das Berchtesgadener Land, zu dem neben dem Markt Berchtesgaden auch Bischofswiesen, Marktschellenberg, das Bergsteigerdorf Ramsau und Schönau am Königssee gehören, und auch gut 2.000 touristische Betriebe. „Die Struktur ist sehr kleinteilig, es gibt wenig große Häuser, aber viele private im Nebenerwerb“, sagt Teresa Hallinger, Abteilungsleiterin Destinationsmanagement beim Zweckverband. Gerade bei Letzteren sei es schwierig, sie bei Generationswechseln im Tourismus zu halten.
Beim Zweckverband wünscht man sich deshalb „Leuchtturmprojekte“, die das widerspiegeln, wie sich Berchtesgaden gern sehen möchte: In den Broschüren heißt das: „Eigenart, Berge, Kraft“. Gemeint ist ein wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Tourismus, der auch die Einheimischen mitnimmt.
Ein bisschen Druck macht man sich zusätzlich durch die Mitgliedschaft bei den Alpine Pearls, einem Zusammenschluss von 18 Gemeinden aus dem österreichischen, deutschen, italienischen und slowenischen Alpenraum, die sich einer „sanften Mobilität“ verschrieben haben und den nachhaltigen Tourismus weiterentwickeln wollen. Der hat sich gerade als „Europäischer Verbund für territoriale Kooperation EVTZ Alpine Pearls“ eine neue Struktur geschaffen, mit der die Mitglieder nun auch auf Fördermittel aus dem EU-Strukturfonds hoffen können.
Wie bei den meisten Gemeinden, die dem Verbund angehören, zieht es auch im Berchtesgadener Land die Jugend weg. Das Angebot in den Städten zu imitieren, ist für den Zweckverband aber keine Option, sein Ziel ist es vielmehr, die Besonderheiten der Region – eben die „Eigenart“ – auszubauen und hervorzuheben.
Wie das aussehen kann, zeigen etwa das Berghotel Rehlegg und der erst Ende 2021 eröffnete Kulturhof Stanggass, die zu den Partnern des Nationalparks gehören. „Unsere Partner sollen auch Botschafter des Nationalparkgedankens sein“, sagt Brendel. Und dabei geht es nicht nur darum, dass sie Infomaterial wie das Nationalparkprogramm oder die Broschüre zum Geierpfad anbieten: „Es geht auch um den Aufbau und Erhalt eines guten Nachhaltigkeitsnetzwerks mit ganz individuellen Ansätzen, die wie bei der Artenvielfalt ein stabiles, aber sich immer wieder wandelndes System tragen.“
„Das Rehlegg“ spreche vor allem eine Klientel von Wanderfreudigen und Vogelfreund:innen an, die nicht auf den Cent schauen müssen. „Wir verkaufen Luxus, aber einfachen Luxus, wie auf der Terrasse vor der Bergkulisse zu frühstücken“, sagt Franz Lichtmannegger, der das Hotel gemeinsam mit seinem Bruder Hannes führt und seit 2008 Schritt für Schritt zu dem Ökohaus gemacht hat, das es heute ist. „Wir sind noch lange nicht da, wo wir hin wollen“, sagt er. Aber es gibt ein Blockheizkraftwerk, Photovoltaik – und als neue Betten gebraucht wurden, kamen die „nicht mehr aus Schweden, sondern von einer uralten regionalen Manufaktur“. Eine Herausforderung sei es gewesen, komplett „ungequältes Fleisch“ anbieten zu können. In den Bädern steht Naturkosmetik, geputzt wird mit effektiven Mikroorganismen statt Chemie.
Der Kulturhof ist mit 24 Zimmern und zehn sogenannten Stadeln nicht einmal halb so groß wie das Hotel, aber genauso „enkeltauglich“ angelegt, wie Betreiber Bartl Wimmer sagt, der nicht zufällig seit 2020 auch dem Zweckverband vorsitzt. Der Begriff taucht bei Gesprächen mit Berchtesgadener Tourismus- und Wirtschaftsakteur:innen immer wieder auf. Er stammt aus der Ökobewegung der 1980er Jahre, erlebt aber im aktuellen Klimaaktivismus ein Revival – und ist einfach eine plastischere und emotionaler aufgeladene Variante von „nachhaltig“. Die 700 Kubikmeter Bauholz – vor allem Lärche, aber auch Fichte und Tanne sowie Esche für die Böden – stammen größtenteils aus der Region, für die unterirdischen Bauelemente wurde hauptsächlich Schutt des Vorgängerhotels geschreddert und wiederverwendet, das Dämmmaterial ist recyceltes Altpapier. Auch drei Viertel der beteiligten Firmen sind im näheren Umkreis beheimatet. Ebenso nachhaltig ist der Betrieb: Geheizt wird mit Hackschnitzeln, sonstige Energie kommt aus Solarkollektoren. Vor allem greift das Konzept den Vernetzungsgedanken des Nationalparkmanagements auf: Es gibt Seminarräume für Bildungsarbeit, Werkstätten und Yogaräume, vor allem aber auf dem ganzen Gelände immer wieder Treffpunkte – nicht nur für Übernachtungsgäste, sondern auch für die Berchtesgadener:innen. Deren enge Einbindung ist dem Grünen-Politiker Konzept: Sein allerneuestes Projekt, die Neubichler Alm, schnappte er im Frühjahr einem Münchner Investor vor der Nase weg, weil er wollte, „dass Einheimische dort auch künftig Platz haben“.
Während die beiden Betreiber daran feilen, ihre Angebote ökologisch wie sozial weiter zu verbessern, hadern sie noch mit dem Außenanschluss, sprich: der Mobilität. „Es wäre schön, einen ÖPNV zu haben, den ich auch nutzen kann“, sagt Lichtmannegger. Im Berchtesgadener Land fehle aber eine Ringverbindung. Seinen Gästen stelle er einen E-Smart zur Verfügung. Aber an den verstopften Straßen ändere die E-Mobilität natürlich nichts. Wimmers Vision ist ein e-mobiler ÖPNV mit autonom fahrenden Bussen. Lichtmannegger wünscht sich individuelle Fahrzeuge, „wo ich mir ein Auto rufe, bei dem ich am Ziel einfach aussteige“.
Wäre die Peripherie besser angebunden, hätte das womöglich noch einen weiteren positiven Effekt: Parkplätze, die für Tourist:innen ausgezeichnet wären, könnten entsprechend teuer gemacht werden. Und das, so die Idee, könnte auch diese dazu bewegen, vom eigenen Verbrennerauto wegzukommen. „Das Narrativ muss sein: Ich brauche gar kein Auto, und die es brauchen, sind arme Säue“, sagt Lichtmannegger.
Das bedeutet zwar auch weniger überfahrene Bergeidechsen, Blindmäuse, Rotfüchse oder Dachse auf den Straßen – und damit weniger leichte Beute für den Aasfresser Bartgeier. Brendel: „Aber das wird nicht der entscheidende Punkt sein, der seiner Wiederansiedlung entgegensteht.“
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