Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI): Wirtschaft ungewöhnlich stark
Mehr Konsum, weniger Emissionen: Der alternative Wirtschaftsindex NWI ging 2022 steil bergauf – trotz wachsender Einkommensungleichheit.
Berlin taz Wenn im Januar das Statistische Bundesamt seine erste große Pressekonferenz für das Jahr abhält, werden alle auf eine Zahl schauen: Wie hat sich das Bruttoinlandsprodukt – kurz BIP – im Jahr 2023 entwickelt? Doch was sagt diese Zahl überhaupt über den ökonomischen Zustand der Gesellschaft in Deutschland aus?
Relativ wenig, sagen Kritiker*innen. Seit geraumer Zeit diskutieren deshalb Ökonom*innen, wie die wirtschaftliche Entwicklung jenseits des BIP besser gemessen werden kann. Vor rund einem Jahrzehnt beschäftigte sich auch eine Enquete-Kommission des Bundestages mit dieser Frage.
Auch das Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit Alternativen zum BIP. Es berechnet mit Förderung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI).
Und der zeigt, dass die Wohlfahrt im Jahr 2022 trotz Energiepreiskrise und steigender Inflation ungewöhnlich stark zugelegt hat, wie das IMK am Mittwoch bekannt gab. So stieg der NWI um 9,9 Punkte, das war der größte Zuwachs in einem Jahr seit 1991. Der Index liegt nun bei 103,8 Punkten, wobei der Wert 100 dem Niveau im Jahr 2000 entspricht.
Konsum steigerte die Wohlfahrt
„Der NWI im Jahr 2022 ist gegenüber 2021 aufgrund des erhöhten Konsums, geringeren Treibhausgasemissionen und ausbleibenden Naturkatastrophen (wie den Flutkatastrophen 2021) gestiegen“, erklärt Tom Bauermann vom IMK die Entwicklung. Allerdings gebe es auch Schattenseiten, die der Index nicht abbilde: „Der Anstieg des Konsums beruhte auch auf staatlichen Entlastungsmaßnahmen, die die Wirkung der Inflation stark abgemildert haben. Die geringeren Treibhausgasemissionen hängen wiederum mit teils unfreiwilligen Energieeinsparungen von Haushalten und Industrie infolge von Energiepreisschock und schwacher Konjunktur zusammen.“
Das FEST berechnet den NWI anhand von 21 Kennzahlen. Positiv auf den Index wirken sich zum Beispiel die privaten Konsumausgaben, ehrenamtliches Engagement und der Staatskonsum aus. „Der NWI soll eine umfassendere Perspektive auf den Wohlstand bieten als das BIP, indem er den Blick auf den Wohlstand um soziale und ökologische Aspekte erweitert“, sagt IMK-Experte Bauermann. So schmälerten beispielsweise steigende Einkommensungleichheit oder erhöhte Treibhausgasemissionen den Wohlstand im NWI.
„Im BIP spielen diese Komponenten keine Rolle“, führt Bauermann weiter aus. Allerdings habe auch der NWI seine Grenzen, wie die Werte für 2022 zeigen: „Ob der Rückgang von Treibhausgasemissionen auf besserer Technik oder einer Wirtschaftskrise beruht, bildet der NWI nur unvollständig ab.“
Dabei zeigen die NWI-Berechnung: 2022 entwickelten sich Wohlstand und BIP zwar in dieselbe Richtung. Auch die Wirtschaftsleistung stieg – um 1,9 Prozent. Doch auf lange Sicht ist das nicht der Fall. Seit 1991 ist das BIP fast kontinuierlich gewachsen. Es legte seitdem insgesamt um 47 Prozent zu. Beim NWI stellen die Forschenden hingegen einen „Wechsel zwischen Auf und Ab“ fest, sodass er letztlich kaum gestiegen ist. Als Grund für diese Ungleichzeitigkeit nennen sie die wachsende Einkommensungleichheit.
Wie sich die Wohlfahrt in diesem Jahr entwickelt hat, können die Forschenden bisher nur schwer einschätzen. „Ein ähnlich hoher Anstieg wie 2022 kann aber bereits jetzt ausgeschlossen werden“, heißt es.
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