Natan Sznaider über Postkolonialismus: „Die Gegensätze aufrechterhalten“
Im Streit über Postkolonialismus und Antisemitismus plädiert Natan Sznaider für Wissenschaft statt blinden Aktivismus.
taz: Herr Sznaider, die Debatte um Postkolonialität und Antisemitismus ist in vollem Gange. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis mit dem nächsten Diskursereignis eine neue Runde heftigen, polarisierten Streitens eingeläutet wird. Stets wurden dabei verschiedene Debatten gleichzeitig geführt. Welche sind das?
Natan Sznaider: Da ist zunächst die Debatte, wie die Shoah verstanden werden soll: als ein einzigartiges Verbrechen, als Verbrechen gegen die Menschheit, also einzuordnen in die verschiedenen Völkermorde, oder als etwas Einmaliges. Das ist eine wissenschaftliche Debatte, die dann politisiert wurde. Da ist zweitens die Debatte, ob es eine besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden und auch gegenüber Israel gibt, ob zum Beispiel Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson ist und sein soll und ob das wiederum mit der Shoah zusammenhängt.
Ein weiterer Strang ist die Frage nach dem deutschen Kolonialismus und seiner Aufarbeitung, seinen kausalen Zusammenhängen und seine Zusammenhänge mit der Shoah selbst. Auch hier dreht es sich darum, ob man diese Fragen rein wissenschaftlich oder nur politisch behandeln kann und inwieweit eine solche klare Trennung sinnvoll ist. Gerade im postkolonialistischen Denken wird ja nicht zwischen politischem Aktivismus und Wissenschaft unterschieden. Dadurch werden die Debatten sehr aufgeladen. Ohnehin sind in jeder dieser Debatten Wahrheits- oder Ausschließlichkeitsansprüche stark vertreten.
Ein zentrales Moment der Diskussion scheint mir auch das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus zu sein. Warum tun sich so viele postkoloniale Denker*innen und Aktivist*innen so schwer damit, jüdische Partikularität anzuerkennen, etwa in Bezug auf Israel, die Spezifik des Antisemitismus sowie Spezifik der Shoah?
wurde 1954 in Mannheim als Kind aus Polen stammender staatenloser Überlebender der Shoah geboren. Er lehrt seit 1994 als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv.
Fragen nach dem Verhältnis von Minderheit zu Mehrheit, von Weißheit und Nicht-Weißheit oder zum Thema interne Kolonisation wurden schon vor der postkolonialen Wende von jüdischen Denkern thematisiert. Am Anfang meines Buches geht es daher viel um die aus der Dialektik der Assimilation und Emanzipation der Juden entstandene Wissenssoziologie von Karl Mannheim, aber auch um Franz Kafka und die Dreyfus-Affäre und natürlich um Hannah Arendt, die eine ganz besondere Bedeutung in dieser Diskussion hat. Der postkolonialistische Diskurs könnte insofern viel vom jüdischen Denken lernen – wenn er wollte. Doch er will sich als etwas Neues geben und zeigen, dass er neue Wahrheiten besitzt. Ein neues Testament sozusagen. Und dazu kommen dann die israelische Staatsgründung von 1948 und die damit zusammengehende Revolution in den jüdischen Lebenswelten. Jüdische Israelis gelten als „weiß“. Davon will man sich als „weltoffener“ Mensch distanzieren.
Dennoch gibt es explizite Bezugnahmen auf Formen von Jüdischkeit. Edward Said etwa sprach von sich einmal als „letztem jüdischen Intellektuellen“ in der Tradition Theodor W. Adornos. Achille Mbembe versteht sein Engagement als ein „die Welt reparieren“, womit er sich auf das jüdische Konzept des Tikkun Olam bezieht.
Said und Mbembe picken sich nur den für sie „machtlosen“ Teil des Judentums heraus, nämlich den Teil des Exils und des Minderheitsdaseins. Exil wird als ein epistemologischer Ausgangspunkt betrachtet, von dem man die Wahrheit sieht und daher keinen Widerspruch duldet. Nur ist eben Exil nicht nur Epistemologie, sondern auch Politik: In dem Moment, in dem das Exil beendet ist, man von ihm erlöst wird, wo man politisch gesehen souverän ist, ist man dann natürlich automatisch im Unrecht. Bekanntlich gibt es ja viele jüdische Denker und Denkerinnen, für die das authentische jüdische Denken ein diasporisches ist; ein Denken im Exil, das durch Souveränität und durch Macht zerstört wird. Der Staat Israel als Antwort auf Antisemitismus, auf das Scheitern des jüdischen Exils, der jüdischen Emanzipation und der Assimilation wird dann zum Störfaktor.
Ihr Buch liest sich wie ein Plädoyer für mehr Diskussion. Was fehlt in der Debatte aus ihrer Sicht?
Ich versuche, von den Erfahrungen der Leute ausgehen, ohne dabei essenzialistisch in Identitätspolitik zu verfallen. Wenn ich verstehe, dass ich von meinen eigenen Erfahrungen her argumentiere, dann kann ich gleichzeitig verstehen, dass das auch bei anderen so ist. Damit meine ich keine dialogische Erinnerung, sondern dass wir Gegensätze und Antagonismus bewusst aufrechterhalten. Ich möchte die Debatte liberalisieren. Gewaltgeschichten trennen uns. Politischer Diskurs ist keine Gruppentherapie.
In der Hoffnung, dass das beste Argument dann irgendwie gewinnt?
Nicht mal das muss sein. Niemand gewinnt oder verliert hier. Ein Beispiel: Wenn jemand, wie es Mbembe tat, behauptet, die israelische Besatzung sei der größte Skandal unserer Zeit oder Israel ein Apartheitsregime, dann können einige damit was anfangen, andere sind darüber empört und sehen das als Skandal. Ich plädiere für mehr Gelassenheit in der Diskussion, obwohl ich weiß, dass es nicht geht. Durch die zionistische Revolution ist Israel ein souveräner, starker Staat geworden, der auch mit Meinungen umgehen kann, die zweifellos skandalös sind.
Manche Verteidiger Israels in Deutschland scheinen uns aber mitunter noch immer als schwache Juden zu sehen, die genau ihre Verteidigung bräuchten. Das heißt natürlich nicht, dass man skandalöse Aussagen zu Israel einfach so stehen lassen soll, im Gegenteil. Aber gleichzeitig sollten auch die, die so etwas sagen, am Ende nicht immer so tun, als ob man sie nicht reden lässt. Ich sehe da keinen McCarthyismus am Werk. Dass durch den BDS-Bundestagsbeschluss die Leute nichts mehr sagen können, stimmt einfach nicht. Sie hören ja nicht auf zu reden, gerade auch deswegen. Allerdings müssen sie dann auch Widerspruch in Kauf nehmen. Und das ist ja gerade das Problem mit so vielen Postkolonialisten: sie dulden keinen Widerspruch.
In ihrem Buch beziehen Sie sich auf eine Reihe von Intellektuellen, die über Kolonialismus, Postkolonialität, über Antisemitismus und Israel nachgedacht haben, so etwa Claude Lanzmann, Frantz Fanon, Jean Améry oder Edward Said. Intensiv diskutieren Sie auch die Schriften und Biografie von Albert Memmi (1920–2020), ein Denker, der in Deutschland weitgehend unbekannt ist. Was macht ihn besonders?
Natan Sznaider: „Fluchtpunkte der Erinnerung“. Hanser Verlag, München 2022, 256 S., 24 Euro
Im antikolonialistischen Kanon ist er ein Klassiker wie Frantz Fanon und Aime Césaire. Wie Arendt ging es ihm um jüdisches kulturelles Selbstbewusstsein, was er Judéité nannte. Im zeitgenössischen postkolonialistischen Diskurs ist Albert Memmi verschwunden – wohl weil seine Biografie und seine Positionen in der von Dichotomien geprägten Diskussion schlicht zu kompliziert sind. Memmi war auch Zionist, gleichzeitig arabischer Jude und Franzose. Und er war nicht weiß. Das ist einfach zu kompliziert.
Können Sie Memmis Komplexität genauer erläutern?
Albert Memmi hat versucht zu zeigen, ob es möglich ist, Araber, Jude und Franzose gleichzeitig zu sein. Er ging 1956 aus Tunesien nach Frankreich, sah in der Gründung Israels eine Notwendigkeit und hat es zeit seines Lebens verteidigt als einen antikolonialistischen Staat für die Juden, auch wenn er selbst nicht nach Israel wollte. Memmi war zudem – ähnlich wie Fanon und Lanzmann, Arendt und andere – enttäuscht vom französischen Universalismus, hat aber dennoch französisch geschrieben und gedacht. Dazu kommt noch seine Abrechnung mit den unabhängigen postkolonialen Staaten wie Marokko, Algerien und Tunesien. Für sie hatte er überhaupt keine Sympathien mehr wegen der diesen Staaten und Gesellschaften inhärenten reaktionären Strukturen, die sich für ihn nicht mit einem Verweis auf französischen Kolonialismus entschuldigen lassen. Memmi ist schwer einzuordnen. Das hielt ich für gewinnbringend und wollte auch über ihn meine eigene Position in der Debatte verstehen.
Die Debatte in Deutschland wird sehr erbittert geführt. Am Ende unseres Gesprächs hier in Tel Aviv habe ich den Eindruck, dass Sie sich der Sache sehr gelassen annehmen.
Ich glaube, dass ich mir den Luxus der Gelassenheit in diesen Debatten erlauben kann. Es gibt hier in Israel existenzielle Probleme wie die Bedrohung durch den Iran und wie man mit der Besatzung umgehen soll. Ich nehme die Debatten, wie auch die aktuelle um die Documenta aber natürlich ernst – und betrachte mit Sorge, wie Teile der sich weltoffen verstehenden deutschen Kulturelite ein doch sehr geschlossenes Weltbild haben.
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