Nachwuchswettbewerb für Modedesign: Zeichen der Zeit
Beim International Talent Support in Triest wird die Zukunft der Mode gemacht. Die gezeigten Entwürfe der Modedesigner:innen waren sensationell.
Honoré de Balzac trug seine Sicht der Sache barsch vor: „Ein Mensch, der in der Mode nur die Mode sieht, ist ein Trottel.“ Was er damit zur Sprache brachte, war schon damals, im 19. Jahrhundert, richtig, denn Mode ist nicht einfach Kleidung aus der Zeitgeistindustrie, auch wenn sie meist darauf reduziert oder als oberflächlich geschmäht wird.
Mode ist mehr. Als soziale und ästhetische Praxis erzählt sie von gesellschaftlichen Veränderungen oder nimmt sie gar vorweg. Man denke nur an Mode aus Japan von Rei Kawakubo, Issey Miyake und Yohji Yamamoto, die bereits vor 40 Jahren eine Körpersprache für die Gender Fluid Future von heute gefunden hatten. Mode ist reflexiv, mitunter auch selbstreflexiv, und sie kann Seismograf der Wünsche und Ängste ihrer Zeit sein.
Unmittelbarer als bei den Prêt-à-porter-Schauen der großen Designhäuser, für die Verkäuflichkeit freilich ein wichtiges Kriterium ist, kann man das beim jährlich stattfindenden International Talent Support (ITS) in Triest erfahren. Dort kriegt man nämlich vestimentäre Artefakte von jungen Modedesigner:innen zu sehen, die die Zukunft der Mode in den Zentren mitbestimmen werden, aber hier noch Entwürfe zeigen, die keinen kommerziellen Aspekten folgen.
Das ist vor allem der Passion von Barbara Franchin zu verdanken, die den Nachwuchswettbewerb für Modeabsolvent:innen aus der ganzen Welt vor nun 20 Jahren ins Leben gerufen hat. Inzwischen hat der ITS über 60.000 Bewerbungen empfangen, in langen Auswahlverfahren sind in all den Jahren ca. 550 Finalist:innen aus ihnen hervorgegangen, heuer waren es 16, die ihre Entwürfe vor einer hochkarätigen Jury präsentieren durften.
Demna, Star der Mode
Nächsten März wird der ITS im Gebäude der Fondazione CRTrieste auf einer Fläche von 7.000 Quadratmetern endlich sein neues Zuhause eröffnen: Ein Archiv, Platz für Workshops und vor allem ein herausragendes Museum, wie sich schon jetzt zeigte, für die Outfits und Portfolios aus allen Wettbewerbsjahrgängen wird es beherbergen – ein Ort, an dem die Geschichte der Mode sich wunderbar aufschlüsseln lassen wird.
Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass in Triest die Zukunft der Mode beeinflusst wird. Und dieser vergessene vormalige K.-u.-K.-Sehnsuchtsort, der heute Provinz ist und sich anfühlt wie ein kleines Wien am Meer, bietet den richtigen intimen Rahmen für „the family“, wie Franchin die Designer:innen, Juror:innen und Journalist:innen nennt, die sie hier zusammenbringt.
Man weiß nicht, ob man darin Koketterie oder Understatement erkennen soll, denn zu dieser family gehören schließlich ganz große Namen. In diesem Jahr war Demna Gvasalia, einst selbst Finalist in Triest, Teil der hochkarätigen Jury. Es gibt zurzeit kaum einen größeren Star in der Branche als den Streetwear-Revolutionär und Gründer des Labels Vetements, der seit 2015 Kreativdirektor von Balenciaga ist.
Viele glauben, dass er Balenciaga aus der Bedeutungslosigkeit geholt und zur aktuell interessantesten und einflussreichsten Luxusmarke gemacht hat. Der intellektuelle Ugly-Style ist sein Ding. Demna, wie er sich neuerdings nennt, hatte seinen Mann, den Musiker Loik Gomez aka BFRND, mitgebracht nach Triest. Gomez’ Style lag irgendwo zwischen Gaming-Science-Fiction und Neo-Gothic, während Demna mit einer Adidas-Basecap betont underdressed war.
La familia
Auch Raf Simons, Viktor & Rolf oder die Performance-Künstlerin Marina Abramović hat Franchin in der Vergangenheit schon in die Jurys geholt; einstige Finalist:innen sind heute bei Issey Miyake, Missoni, Kenzo, Louis Vuitton und anderswo einflussreiche Köpfe.
Man könnte die Liste der prominenten Namen noch lange fortsetzen, aber interessant ist sie vor allem deshalb, weil man sich hier zwischen Hotel, Show und Kaffeehaus in einem Radius von nicht einmal tausend Metern drei Tage lang offen und gut gelaunt begegnet. Auf der Piazza Unità hängt man gemeinsam im Caffè degli Specchi ab, und es macht keinen Unterschied, ob gerade einer die Läufe bei Missoni bestimmt, Direktorin der Vogue Italia oder bloß eine kroatische Bloggerin ist.
Dagegen ist so manch eine Literaturveranstaltung eine fatigant hierarchische Misanthropenveranstaltung von Quenglern in schlecht sitzenden Anzügen und grauen Kostümchen. Manchmal.
Gegenwartsfragen in Mode übersetzt
Was die jungen Designabsolvent:innen präsentierten, war sensationell. Erstklassig gearbeitete Entwürfe, deren Storytelling durch berauschende bis verstörende Videokunst unterstützt wurde. Jede Kollektion eine eindrucksvoll sinnlich-intellektuelle Gegenwartserschließung.
Ein ästhetisches Herantasten an Fragen wie: Was erzählen Plisséfalten über das Nichtsagbare in autoritären Staaten, wie kann Begehren das Binäre durchkreuzen oder wie verändert Covid das Öffentliche und das Private, und kann Mode Familie repräsentieren?
Die Finnin Hanna-Lotta Hanhela zeigte eine Kollektion, die von ihrer alzheimererkrankten Großmutter ausging: Was passiert, wenn die Erinnerungen zu schwinden beginnen? Übersetzt in ihre Entwürfe bedeutet das: Verarbeitung wird fragil, Silhouetten werden skulptural, Fehler mit Präzision.
Ebenso eine große Favoritin und ausgezeichnet mit dem ITS Special Mention der Vogue Italia: die Österreicherin Eva Heugenhauser. Sie beschäftigte sich mit dem Wert immaterieller Arbeit und der Wertteorie. Ihre Antwort auf die Beziehung zwischen Zeit und Wert: ein Biostoff aus Glyceringelatine – „The Disappearing Suit“.
Alte Ressourcen für eine katastrophische Zukunft
Den mit 15.000 Euro dotierten ITS Academy Award gewann der Zypriote Charlie Constantinou, ein Absolvent des Londoner Central Saint Martins College, mit einer Kollektion, für die er in Alaska und Kanada bei den Inuit recherchierte. Herausgekommen ist eine sportswear-orientierte, brutalistisch wirkende Funktionskleidung aus Ressourcen der Innuit wie dem Darm einer Robbe.
Hier kommen Materialien zum Einsatz, die seit Hunderten von Jahren genutzt werden, doch die dehnbaren Entwürfe mit Strickaccessoires, bauschigen Westen, vielen Schnürsenkeln und Reißverschlüssen sehen nach Zukunft aus. Nach einer katastrophischen Zukunft.
Unweigerlich kann einem Walter Benjamin einfallen. Wie war das gleich? Mode habe antizipatorischen Charakter, schrieb er im „Passagenwerk“. Die Mode stehe in weit konstanterem, weit präziserem Kontakt mit den kommenden Dingen. Wer zu lesen sie verstehe, der wisse im Voraus gar um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.
Ein Gedanke, den man gleich wieder wegschieben möchte.
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