piwik no script img

Nachruf auf den Soziologen Ulf KadritzkeSchreiben über die Klassengesellschaft

Ulf Kadritzke hinterfragte, warum soziale Ungleichheit in Deutschland kaum wahrgenommen wird. Der Soziologe starb im Alter von 77 Jahren.

Ulf Kadritzke auf einer Veranstaltung der Hochschule für Wirtschaft und Recht, 2014 Foto: Cordia Schlegelmilch

Ulf Kadritzke war ein besonderer Soziologe: Er dachte marxistisch, ohne Marxist zu sein. Er beschrieb akribisch, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist – aber diese brutale Realität kaum sichtbar wird, weil die Angestellten an ihren eigenen Aufstieg glauben. Die Ungleichheit ist eklatant, und dennoch wähnt sich fast die gesamte Gesellschaft in der „Mitte“.

Kadritzkes Arbeiten spiegeln auch die eigene Herkunft. 1943 wurde er in Rosenberg in Westpreußen geboren; der Vater war Nationalsozialist und Offizier im Reichsarbeitsdienst. Die Flucht vor der Roten Armee endete schließlich im Remstal bei Stuttgart.

Als Kind musste sich Ulf von den Einheimischen immer wieder anhören: „Geht doch zurück, wo ihr hergekommen seid.“ Er war fremd in der einzigen Heimat, die er kannte. „Wir wollten unbedingt Schwaben werden“, erinnert sich sein Zwillingsbruder Niels, der später Journalist wurde.

Als Ulf elf Jahre alt war, starb der Vater an Krebs; die Mutter musste ihre vier Kinder allein durchbringen. Die Nachbarn erwarteten, dass die Kadritzke-Söhne wie alle Remstaler „beim Daimler schaffen“ würden. Doch die Mutter, eine Lehrerstochter, schickte ihre Kinder aufs Gymnasium.

Bei Demos immer in Turnschuhen

Schon in der Pubertät wurde Ulf rebellisch und trat mit 16 Jahren in die SPD ein. Für den Abituraufsatz wählte er das Thema: „Äußern Sie sich zu der These ‚Eigentum ist Diebstahl‘.“ Anschließend wechselte er sofort an die FU Berlin, um Soziologie zu studieren – und wurde zu einem Wortführer der Studentenproteste.

Ulf gehörte dem Sozialdemokratischen Hochschulbund an, der mondän im Villenviertel Zehlendorf residierte. Der Spiegel berichtete 1967 süffisant, dass die Monatsmiete für das Protestquartier 400 D-Mark betrug – damals eine üppige Summe. In diesem luxuriösen Ambiente wurde dann die „grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung“ diskutiert.

Die Brüder Kadritzke waren bei allen großen Demonstrationen dabei, gegen den persischen Schah, gegen den Vietnamkrieg und gegen die griechische Junta. „Immer mit Turnschuhen“, wie Niels berichtet, „weil man dann schneller war als die prügelnden Polizisten.“

Freude an der Kontroverse

Doch schon bald zog es Ulf in die Wissenschaft. Seine Dissertation „Angestellte – Die geduldigen Arbeiter“ machte ihn sofort bekannt. Es folgte eine Station am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen, und ab 1976 war er Professor an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin, die später in der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) aufging.

Ulf Kadritzke hatte die Begabung, auch Andersdenkende für sich einzunehmen. Er war stets bester Laune, immer herzlich und ein begnadeter Netzwerker. Dieses Talent nutzte er nach seiner Emeritierung, um an der HWR ein interdisziplinäres Studium generale aufzubauen und so gegensätzliche Gäste wie ifo-Chef Sinn und DGB-Vizin Engelen-Kefer einzuladen.

Gleichzeitig forschte er weiter. 2017 erschien sein Buch „Mythos ‚Mitte‘. Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage“, das auch für Laien verständlich ist. Am Samstag ist Ulf Kadritzke an einem Herzinfarkt gestorben. Er hinterlässt seine Frau und einen Sohn.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

2 Kommentare

 / 
  • Die besten, heißt es, sterben immer (zu) jung. Auch noch mit beinahe 80 Jahren. Sollte auch nur die Hälfte des Lobliedes, das mit diesem Nachruf gesungen wird, einen wahren Kern haben, wird dieser ganz besondere Soziologen jedenfalls fehlen. Sehr sogar.

    • @mowgli:

      Es ist nicht nur so, dass mehr als die Hälfte "des Lobliedes" stimmt. Der Platz reicht hier gar nicht aus, Ulf Kadritzkes Bedeutung zu würdigen!!



      Mich jedenfalls hat er über Jahrzehnte begleitet, beraten, unterstützt und hin und wieder aufgebaut.