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Nachruf auf Walter FrankensteinMein Freund Walter

Mit 100 Jahren ist der Holocaustüberlebende Walter Frankenstein gestorben. Unser Autor hat ihn und seine Erinnerungsarbeit begleitet.

Den Judenstern und das Bundesverdientskreuz hatte er bei öffentlichen Auftritten immer dabei Foto: Karsten Thielker

Vor zehn Jahren, als Walter Frankenstein 90 Jahre alt wurde, wünschte er sich als Geschenk einen Absprung mit dem Fallschirm. Er habe schon so vieles erlebt, sagte er, aber das fehle ihm noch. Es bedurfte eines Vetos seiner Hausärztin, um ihn von dem Vorhaben abzubringen.

Als Ersatz flog er als Passagier einer Sportmaschine Loopings. Seinem mitreisenden Sohn wurde dabei übel. Frankenstein verließ strahlend die gelandete Maschine.

Am Sonntagabend ist Walter Frankenstein, ein Überlebender des Holocaust, im Alter von 100 Jahren in Stockholm verstorben. Er verbrachte die Zeit der Deportationen von Juden in Berlin auf Trümmergrundstücken, in einem aufgebockten Auto, in der Wohnung einer Prostituierten, im Wald campierend, versteckt bei Bekannten und Unbekannten. Gemeinsam mit seiner Frau Leonie und seinem gerade geborenen Sohn ging der junge Mann Anfang 1943 in den Untergrund.

Nicht nur Walter, Leonie und ihr Sohn Uri, den die Eltern nicht Peter nennen durften, weil die Nazis das verboten hatten, konnten so überleben, sondern auch der ein Jahr später in der Illegalität geborene Michael.

Reisen nach Deutschland

Rettungswiderstand nennen Historiker das, was Familie Frankenstein und ihre Helfer geschafft haben. Sie hatten riesiges Glück dabei. Es ist rund 20 Jahre her, da traf ich Walter zum ersten Mal. Ich darf ihn beim Vornamen nennen, denn er wurde mein Freund. Seine Frau und er waren damals einmal zu Besuch in ihr trotz allem geliebtes Berlin gereist. Dort, unter den greisen Tätern, auf Dauer zu leben, erlaubten sie sich nicht.

Aber deutsche Kultur, Theater, Bücher, das gönnten sie sich. Und so sehr sie Menschen ihres Alters in Deutschland mieden, so gerne trafen sie Jüngere mit Interesse für Geschichte. „Ihr könnt nichts dafür“, sagte Walter dazu. Wir saßen in einem Café am Hackeschen Markt und verstanden uns auf Anhieb prächtig. Leonie und Walter erzählten von den Jahren ihrer Verfolgung. Wohl blieb diese Zeit für sie ständig präsent. Aber wer jetzt denkt, Walter sei ein verbitterter alter Mann gewesen, der irrt gründlich.

Der groß gewachsene, gut gekleidete Herr hatte den Schalk im Nacken, sprudelte über vor Geschichten, riss Witze, klopfte Sprüche. Walter konnte mit seinem verschmitztem Lächeln eine Trauergemeinschaft aufheitern. Selbst seine Erzählungen über die Zeit der Verfolgung würzte er mit Anekdoten.

Geboren wurde Walter Frankenstein 1924 in der Kleinstadt Flatow, heute in Polen gelegen. Sein Vater starb früh. Mit zwölf Jahren verschlug es ihn nach Berlin, weil ihm daheim als Jude der Schulbesuch verboten worden war. So kam Walter in ein Waisenhaus. In den jüdischen Auerbach’schen Waisen-Erziehungs-Anstalten ging es preußisch bis in die Knochen zu, mit akkuratem Bettenbau und Ohrenkontrolle vor dem Ausgang. Doch Walter liebte dieses Haus. Wie auf einer geschützten Insel sei das Leben dort lange gewesen, abseits der Nazigräuel, mit hervorragenden Erziehern und Freundschaften, die ein Leben lang anhielten.

Leonie und Walter verschwinden

Doch viele dieser Freundschaften konnten nicht lange halten. Ein Großteil der Kinder ist ab 1942 deportiert und ermordet worden, in Riga, Auschwitz und an anderen Orten. Da hatte Walter das Heim schon verlassen, lebte zusammen mit seiner Leonie, die als Praktikantin ins Waisenhaus gekommen war, in einer winzigen Wohnung. Als das NS-Regime Ende Februar 1943 die letzten jüdischen Zwangsarbeiter in der Reichshauptstadt festnahm und deportierte, verschwanden Leonie und Walter von der Bildfläche.

Nach dem Besuch in den Hackeschen Höfen traf ich Leonie und Walter wieder, dieses Mal in ihrer kleinen, mit Büchern vollgestopften Stockholmer Wohnung. Beide waren verrentet, die Kinder längst aus dem Haus und so hatten sie Zeit. Walter versuchte zu verstehen, was damals in Deutschland geschehen war, warum es geschehen ist. Es ging ihm auch darum, das Schicksal seiner Freunde aus dem Waisenhaus aufzuklären. Tagelang saßen wir am Wohnzimmertisch und diskutierten. Ich war sehr dankbar für das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachten.

Die Befreiung erlebten die Frankensteins in einem Bunker in Berlin-Kreuzberg. Danach hielt sie nichts mehr in Deutschland. Leonie und die Kinder erreichten 1946 legal das britische Mandatsgebiet Palästina. Bei Walters Versuch, dort illegal mit einem Schiff voller jüdischer Flüchtlinge einzureisen, verbrachten ihn die Briten nach Zypern in ein Internierungslager. Erst 1947 erreichte er Erez Israel – um ein Jahr später als Soldat im Unabhängigkeitskrieg Israels zu kämpfen.

Wieder zehn Jahre später emigrierten die Frankensteins, dem Rat eines Freundes aus Waisenhaus-Tagen folgend, nach Schweden. Dort konnte Walter sein Abitur nachmachen und studieren. So wurde er schwedischer Ingenieur.

Auf einmal Zeitzeuge

2008 erschien mein Buch über die Familie. Danach veränderte sich etwas in Walter. Er, der bisher Kontakte in Deutschland eher gemieden hatte, stellte sich nun als Zeitzeuge Schulklassen und Museen zur Verfügung, wo er seine Geschichte erzählte und wieder und wieder davor warnte, dass so etwas wie die NS-Zeit nicht noch einmal geschehen dürfe.

Die Tatsache, dass Rechtspopulisten Wahlerfolge feierten, empörte ihn. Er erneuerte seine deutsche Staatsbürgerschaft, auch, um gegen die AfD wählen zu können. Wenn Walter bei öffentlichen Anlässen auftrat, hatte er stets drei Dinge dabei: ein Bild seiner 2009 verstorbenen Ehefrau, sein vom Bundespräsidenten verliehenes Verdienstkreuz und den „Judenstern“, den er ab 1941 bis zum Beginn der Illegalität hatte tragen müssen.

Die letzten Jahre lebte er in einem Altersheim am Rande von Stockholm, umgeben von seinen Erinnerungen. Er verlor seine Sehkraft, die Ohren machten nicht mehr richtig mit, das Gehen fiel ihm schwer – aber sein fotografisches Gedächtnis behielt Walter bis kurz vor seinem Tod. Walters Erinnerungen waren unschätzbar wichtig, auch für ein Buch über das Auerbach’sche Waisenhaus, das 2024 erschien.

Die Premiere erfolgte damals in der taz-Kantine. Walter, der nicht mehr so gut reisen konnte, war per Video zugeschaltet und wurde zum Star der Veranstaltung. „Ich bin zu jeder Schandtat bereit“, versicherte er seine Unterstützung beim Bemühen, menschliches Leben menschlicher zu gestalten. Walter, du wirst uns fehlen.

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1 Kommentar

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  • Tehi nafscho zrura bizror hachajim.