Nachruf auf Staatschef von Belarus: Streiter für ein freies Belarus
Der erste Staatschef von Belarus, Stanislaw Schuschkewitsch, ist im Alter von 87 Jahren in Minsk gestorben. Zuvor hatte er Corona.
Schuschkewitsch wurde am 15. Dezember 1934 in Minsk in einer Familie von Schriftstellern geboren. Sein Vater wurde 1936 als „Volksfeind“ verhaftet und kehrte erst nach 20 Jahren Gulag und Zwangsarbeit in Sibirien wieder zurück. Schuschkewitsch studierte Physik mit dem Schwerpunkt Radioelektronik und wurde 1972 Professor. Bis Anfang der 90erJahre leitete er den Lehrstuhl für Atomphysik an der Staatlichen Belarussischen Universität in Minsk.
Anfang der 60er Jahre hatte Schuschkewitsch eine Begegnung der dritten Art. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er im Konstruktionsbüro einer Minsker Radiofabrik. Da er besser als alle anderen des Englischen mächtig war, erhielt er den Auftrag, einem speziellen Gast aus den USA Russisch beizubringen.
Besagter Gast war Lee Harvey Oswald, der nach seiner Rückkehr in die USA am 22. November 1963 unter dem Verdacht, ein tödliches Attentat auf den damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy verübt zu haben, festgenommen und zwei Tage später in Polizeigewahrsam getötet worden war.
Wetter als Gesprächsthema
Es sei ihm absolut untersagt gewesen, Oswald über dessen Privatleben, Ausbildung oder die Motive, wegen derer er nach Minsk gekommen sei, zu befragen. Stattdessen habe man über das Wetter, Einkäufe und Theater geredet, erinnerte sich Schuschkewitsch später. Er habe der offiziellen Version der US-Behörden, Oswald habe in Eigenregie gehandelt, nie geglaubt.
Zu einer Zäsur für Schuschkewitasch wurde der 26. April 1986 – der Tag der Explosion des vierten Reaktors im Atomkraftwerk Tschernobyl. Bis dahin sei Michail Gorbatschow sein Idol gewesen, heißt es in Schuschkewitschs Buch „Mein Leben, Zusammenbruch und Wiederauferstehung der Sowjetunion“. Doch Gorbatschows Verschleierungspolitik, der die Interessen der KP über die Gesundheit der Menschen gestellt habe, hätte ihn bitter enttäuscht.
Mit der Unterstützung der oppositionellen Belarussischen Volksfront (BNF) wurde Schuschkewitsch 1989 in den Kongress der Volksdeputierten der Sowjetunion und im Jahr darauf in den Obersten Sowjet von Belarus gewählt, der ihn zum Vorsitzenden bestimmte. In dieser Eigenschaft unterschrieb er mit den damaligen Präsidenten der Ukraine und Russlands am 8. Dezember 1991 einen Vertrag über die Auflösung der Sowjetunion und die Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS).
In einem Interview mit der taz aus dem Jahr 1996 bezeichnete Schuschkewistch den Auflösungsvertrag als ein Dokument, das den Klinischen Tod der Sowjetunion festgestellt habe. „Wenn der Notarzt kommt und sieht, dass der Kranke verstorben ist, setellt er einen Totenschein aus. Und das haben wir getan“; sagte Schuschkewitsch.
Auf dem vierten Platz gelandet
Im Juni 1994 trat Schuschkewitsch bei der Präsidentenwahl an und landete mit 9,9 Prozent auf dem vierten Platz. Die zweite Runde konnte Alexander Lukaschenko für sich entscheiden, der alsbald begann, Belarus zu einem autoritären Staat umzubauen.
Mit Lukaschenko stand Schuschkewitsch, der sich in der sozialdemokratischen Partei BSDG engagierte, recht bald auf Kriegsfuß. 1997 ließ eine Gesetzesänderung auch seine monatliche Rente auf umgerechnet 1,80 Euro schrumpfen, was er als einen Rachefeldzug Lukaschenkos deutete – gegen Leute, die sich nicht bedingungslos unterordnen wollten.
Ähnlich lautete seine Einschätzung 2020, als sein Sohn Stanislaw während der Proteste gegen die Präsidentenwahl am 9. August wegen mehrerer Posts auf Facebook zehn Tage in Haft genommen wurde. Gegenüber dem russischen Nachrichtenportal insider.ru zitierte schuschkewitsch die berühmte russische Dichterin Anna Achmatowa mit dem Satz: „Nach mir wurden schon so viele Steine geworfen, dass mir keiner mehr Angst macht.“ Das dürfte er auch 2021 gedacht haben: Da wurde sein Name aus den Lehrbüchern für die 11. Klasse gestrichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers