Nachruf auf Günter Kunert: Ein heiterer Melancholiker
Er galt als Meister der kurzen Form: Günter Kunert war vor allem ein Lyriker. Mit 90 Jahren starb der Schriftsteller in seiner Wahlheimat Itzehoe.
Kunert wusste, wie es ist, von Ost nach West zu wechseln: Als er 1979 mit seiner Frau von Ostberlin nach Schleswig-Holstein übersiedelte, war er schon 50 Jahre alt. Der Katzenliebhaber ließ sich im kleinen Dorf Kaisborstel nahe Itzehoe nieder und handelte sich mit seinen skeptischen bis pessimistischen Versen und Aphorismen bei seinen Rezensenten bald den Spitznamen einer „Kassandra von Kaisborstel“ ein.
Der gebürtige Berliner war ein vielseitiger Künstler. Obwohl er die Lyrik als Kern seines Schaffens empfand, schrieb er auch Erzählungen, Essays, Reiseberichte, Schauspiele und Kinderbücher. Einen Roman hat er unter dem Titel „Im Namen der Hüte“ 1967 in der Bundesrepublik publiziert.
Kunert malte und zeichnete außerdem. Nach dem Krieg hatte er ein Grafik-Studium begonnen, das er aber schon nach zwei Jahren abbrach. Noch im selben Jahr, 1947, veröffentlichte er sein erstes Gedicht unter dem Titel „Ein Zug rollt vorüber“ in einer Berliner Tageszeitung.
Eine höhere Schule durfte er nicht besuchen
Gern wäre er Archäologe geworden, doch als Sohn einer jüdischen Mutter durfte er in der NS-Zeit keine höhere Schule besuchen. Als „wehrunwürdig“ ausgemustert, überstand Kunert den Krieg und trat 1949 in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) der neu gegründeten DDR ein.
Im Jahr darauf wurden die Schriftsteller Johannes R. Becher und Bertolt Brecht auf ihn aufmerksam und begannen, ihn zu fördern. 1962 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis. 1963 erschien sein erster Gedichtband („Erinnerung an einen Planeten“) im westdeutschen Carl Hanser Verlag. Dann begannen die Konflikte mit dem SED-Regime. Denn Kunert schrieb keine Hymnen, sondern satirische Gedankenlyrik. 1976 gehörte er zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann.
Drei Jahre später reiste er selbst mit seiner Frau aus. „Fremd daheim“ heißt einer seiner Gedichtbände, die seitdem im Hanser Verlag erschienen. Darin setzte er sich lyrisch mit dem Mauerfall 1989 und seinen Folgen auseinander.
Für den Göttinger Wallstein Verlag arbeitete der Autor in den vergangenen Jahrzehnten an seinem „Big Book“, einem Konglomerat aus lyrischen Skizzen, Traumnotaten, Erinnerungssplittern und Tagesnotizen in mehreren Bänden. 2001 erschien „Nachrichten aus Ambivalencia“, 2011 „Die Geburt der Sprichwörter“, 2013 „Tröstliche Katastrophen“.
Keine Belletristik mehr
Im vergangen Jahr kam „Ohne Umkehr“ heraus: ein illusions-, wenn nicht hoffnungsloser Blick in den Abgrund der Weltpolitik. „Während ich schlief/ging die Welt unter“, heißt es auch im jüngsten Lyrikband „Aus meinem Schattenreich“ (Hanser 2018).
Bei Wallstein erschien auch erst kürzlich Kunerts zweiter Roman unter dem Titel „Die zweite Frau“. Das verschollene Manuskript von 1974/75, wegen seiner Frechheit undruckbar in der DDR, hatte der Verfasser nach mehr als 40 Jahren in einer Truhe wiedergefunden: Der männliche Protagonist irrt durch das Ostberlin der 1970er Jahre, um ein passendes Geschenk zum 40. Geburtstag seiner Frau zu finden – vergebens. Also versucht er es im Intershop, wo man nur mit Westgeld bezahlen kann. Als er unbedachte Bemerkungen macht, entwickelt sich aus Missverständnissen eine Tragikomödie.
Kunert selbst las – nach eigenem Bekunden – zuletzt kaum noch Belletristik. Sachbücher und Biografien interessierten ihn mehr, sagte er schon vor Jahren dem Magazin „Cicero“. Die meisten seiner Bücher habe er verschenkt, viele gingen an die Bibliothek einer Münsteraner Haftanstalt.
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