Nachruf auf Dagmar von Doetinchem: Erinnerungen an die Gräfin
Eine Persönlichkeit der Berliner 68er-Bewegung, Dagmar von Doetinchem, ist am 26. Januar gestorben. Ein Auszug aus der Grabrede.
Dagmar und ich gehören demselben Jahrgang 1947 an, wurden 68er, trafen uns bei der Westberliner Roten Hilfe, gingen berufliche Umwege, beschäftigten uns seit den 1980er Jahren wieder mit dem Nationalsozialismus, wählten später eher CDU als Grüne und haben jeweils ein Kind bekommen, das etwas anders als erwartet wurde. Meine Tochter heißt Karline. Dagmars Sohn heißt Timm. Sie hat ihn geliebt und wollte für ihn möglichst viel Selbstständigkeit und Normalität. Das war ihr wichtig.
Dagmars Geburtsjahr 1947 fällt in die sogenannte schwere Zeit. Unsere Eltern standen 1945 mit fast nichts da: materiell, ideell und moralisch entwurzelt und meist schwer traumatisiert: der Bombenkrieg, die vielen Gefallenen, Flucht, Vertreibung, Hunger. Über dem Land derjenigen, die den Krieg begonnen und Europa mit 19 Millionen deutschen Soldaten verwüstet hatten, lagen Starre und Orientierungslosigkeit. In den frühen 1950er Jahren folgte die von geschichtsabgewandter Betriebsamkeit geprägte Periode des Wiederaufbaus. Dabei herrschte in den meisten Familien eine merkwürdige Kälte. Oft fehlte es den späteren 68ern an dem, was man Nestwärme nennt, eine Generation emotional frierender Kinder.
Dagmars Mutter Roswitha war 1943 mit 27 Jahren Witwe geworden. Ihr Mann, Kapitänleutnant Heinsohn, war mit seinem U-Boot samt 45-köpfiger Besatzung bei Neufundland versenkt worden. Da saß sie nun mit ihren beiden Söhnen, schwanger mit dem dritten, im besetzten Polen, in der Hafenstadt Gdynia, umbenannt in Gotenhafen. Im Sommer 1944 floh Roswitha Heinsohn mit den Kindern nach Blankenhagen in Hinterpommern, im Januar 1945 weiter nach Schleswig-Holstein. Dort wurden der Flüchtlingsfamilie eineinhalb Zimmer unterm Dach zugewiesen. Am 28. Dezember 1947 wurde Dagmar in diese Situation hineingeboren. Dagmars Vater war Dietrich Sigismund von Doetinchem de Rande, der Gutsherr von Blankenhagen, der ersten Fluchtstation der Mutter.
Mit dem Wirtschaftswunder kam 1955 Bruder Andreas zur Welt. Dagmar schloss die Schule mit Mittlerer Reife ab. Dann geschah etwas, worüber sie später nicht sprach: Dagmar wurde als „Maid“ in die niedersächsische Landfrauenschule Obernkirchen gesteckt. Kaiser Wilhelm II. hatte dort seine Töchter hingeschickt, Richard Wagners Enkelin Verena und Hans-Dietrich Genschers Ehefrau lernten dort Hauswirtschaft, Gartenbau und Kleintierzucht – und eben auch, eingekleidet in Maidentracht samt Häubchen, unsere Dagmar, später von uns liebevoll „die Gräfin“ genannt.
Klar ist, dass solche familiären Abgründe zur Rebellion herausforderten, zur Suche nach etwas Neuem, nach menschlicher Nähe. Dagmar fing damit früh an. Sie ging nach Westberlin, zog in die legendäre Kommune 1, dann in die Kommune 2, lernte dort ihren ersten Freund, Ulrich Enzensberger, kennen. Man kann über die Kommunen, über die Wege und Irrwege, die Verrücktheiten, Verblendungen und das Scheitern der ummauerten Westberliner 68er sagen, was man will: Das Aussteigen aus der alten, eingefrorenen, kalten und verlogenen Welt der bundesdeutschen 1960er Jahre war verständlich.
Schwere existenzielle Krisen
Die Um- und Rückwege, die wir dann genommen haben, endeten manchmal komisch, manchmal tragisch. Nicht wenige sind gescheitert, auf Abwege geraten oder psychisch krank geworden, manche haben sich das Leben genommen. Auch Dagmar hatte schwere existenzielle Krisen. Wie schnell die Revolte von 1968 jedoch gewirkt hat, kann man auch daran ermessen, dass die Landfrauenschule Obernkirchen 1970 geschlossen wurde, und zwar „infolge gesellschaftlicher Veränderungen der 1968er-Jahre“.
Ich habe Dagmar 1971 bei der Roten Hilfe kennengelernt. Wir produzierten 1972 die schreckliche Broschüre „Vorbereitung der RAF-Prozesse durch Presse, Polizei und Justiz“. Horst Mahler saß als Mitbegründer der RAF und Terrorist im Knast. Er erschien uns als eine Art Heiliger, seine groben Briefe hielten wir für diskussionswürdige Botschaften. Eine Erklärung, die Ulrike Meinhof 1972 als Zeugin im Mahler-Prozess vor dem Berliner Landgericht abgegeben hatte, fand in der Roten Hilfe kein kritisches Echo. Sie lautete: „Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapitalistisch. (…) Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen – denn die Leute haben ja wirklich nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern vorging –, können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf mobilisieren.“ Ein ähnlicher Satz ist von Dutschke überliefert.
Wer die Lebenserinnerungen Marcel Reich-Ranickis liest, erfährt dort: 1964 war Ulrike Meinhof die „erste Person in der Bundesrepublik“, die, am Ende unter Tränen, „aufrichtig und ernsthaft wünschte“, von Reich-Ranicki über dessen „Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden“. Als sie sich 1976 im Gefängnis erhängte, wählte sie ausgerechnet die Nacht vom 8. zum 9. Mai. „Wäre es denkbar“, fragte Reich-Ranicki, dass es zwischen der deutschen Vergangenheit und dem Weg zum Terror „einen Zusammenhang gibt“?
Aber es wird noch verrückter. Horst Mahler, der als Holocaustleugner und Rechtsradikaler jahrelang im Gefängnis saß, hatte sich 1967 zusammen mit Joseph Wulf, Heinz Galinski, Max Horkheimer, Nahum Goldmann, Léon Poliakov und Fritz Bauer dafür eingesetzt, die Wannsee-Villa in einen Ort zur Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen umzuwandeln. Das Vorhaben scheiterte.
1968 war in der alten Bundesrepublik auch der verzweifelte Versuch der ersten Nachkriegsgeneration, der deutschen Geschichte zu entrinnen. Plötzlich sprachen wir nicht mehr vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, sondern vom internationalen Faschismus. Der hauste nicht so sehr in Deutschland, sondern in Washington, Saigon und Teheran, hieß Lindon B. Johnson, Reza Pahlewi, Nguyễn Văn Thiệu oder General Westmoreland. Der Vorteil: Sie alle hatten keine deutschen Namen und lebten Tausende Kilometer entfernt. Wir selbst schlugen uns auf die Seite der vermeintlich Guten, der Freiheitskämpfer, der Guerilleros.
Man kann diese Ausweichmanöver verstehen. Schließlich waren wir die Kinder der 1933er, wir mussten plötzlich, unvorbereitet und ungeschützt in die Abgründe deutscher Geschichte und unserer Familien blicken. Das Beste an der Roten Hilfe war, dass sie sich ziemlich schnell sang- und klanglos auflöste. Danach landeten viele von uns wieder im Morast deutscher Geschichte.
Dagmar wurde Hebamme
Dagmar wurde nicht, wie von ihr einmal gewollt, revolutionäre Lehrerin, sondern Hebamme. Damit markierte sie, dass sie sich von revolutionären Utopien verabschiedet hatte. In einem nächsten Schritt setzte sie sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit mit dem Nationalsozialismus auseinander, plante die Ausstellung und schrieb die wesentlichen Teile des Buchs „Zerstörte Fortschritte. Das Jüdische Krankenhaus in Berlin“.
Den Titel hatte Klaus Hartung gefunden, ihr geschiedener Mann, der ihr zudem die Einleitung schrieb. Klaus sprach darin von „einer merkwürdigen öffentlichen Stummheit“, von „einer tonlosen Gegenwärtigkeit“, die über dem Thema liege, dem man „nun endlich mit größerer Sorgfalt“ nachgehe. Damit meinte er auch sich selber, unsere Generation, die damalige Neue Linke.
Das Jüdische Krankenhaus bestand bis 1945 – immer mehr der Gestapo und SS unterworfen. Dagmar schrieb am Ende ihres Buchs: „Die Geschichte des Jüdischen Krankenhauses im Dritten Reich ist weniger die Geschichte einer Institution als die von bedrohten und verfolgten Menschen.“ Um das möglichst genau darzustellen, hatte sie Überlebende in großer Zahl besucht: in Berlin und Mainz, in New York und Chicago, in Lugano, London, Haifa, Tel Aviv und Jerusalem. Sie befragte dem Holocaust Entronnene, hörte ihnen zu, verlieh ihnen in Deutschland eine Stimme.
Im Juni 1989 wurden Ausstellung und Buch im Jüdischen Gemeindehaus feierlich präsentiert. Dank Dagmars Arbeit waren etwa 40 Ehemalige des Jüdischen Krankenhauses nach Berlin gekommen, ältere Leute, teils hinfällig, „aber wache und energievolle Menschen sind es, die etwas wollen, voneinander und auch sonst“. So schilderte Klaus Hartung den Eröffnungstag in der taz.
Als Dagmar zum Podium schritt, verhaspelte sich die sonst so selbstbewusst Auftretende, verlor den Faden und fand kein Ende. Aber es wäre falsch zu sagen, sie hätte eine schlechte Rede gehalten. Sie zeigte die tiefe, damals weit verbreitete Unsicherheit. Wir 68er hatten zu mehr als 90 Prozent Väter, die Soldaten der Wehrmacht gewesen waren. Etwa 30 Prozent waren Mitglieder der NSDAP, deutlich mehr hatten dem Führer zugejubelt. Dagmars Stimme versagte immer wieder vor so vielen ihr freundlich und offenherzig zugewandten Juden, die überlebt hatten und nun – dank ihrer Recherchen – nach Berlin gereist waren.
Dagmar lebt von nun an in unserer Erinnerung. Wir erinnern uns mit einem Lächeln und mit Freude an ihre Eigenheiten und an ihre großen Stärken.
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