Nachruf Rainer Domisch: Versteher des Schulwandels
Deutschlands finnischer Bildungspolitiker Rainer Domisch: Mit ihm verstarb eine Hoffnung der deutschen Schule. Er hinterlässt eine Art politisch-pädagogisches Testament.
Als Andrea Ypsilanti einst den Wahlsieg in Hessen vergeigte, fragte man sich, ob das für Rainer Domisch nun gut oder schlecht sei. Jahrelang hatte Domisch in Finnland an der Feinjustierung des Bildungssystems mitgearbeitet. Der Deutsche war die rechte Hand des polternden Bildungskommissars Jukka Sarjala. Domisch war ganz anders. Ein sehr leiser und kluger Mann, der in der krawalligen hessischen Landespolitik vielleicht auch untergegangen wäre.
Die Frage ist seit Dienstag früh eine theoretische. Mit Domisch verstarb in seiner Wahlheimat Finnland eine der Hoffnungen der deutschen Schule. Er kannte alle deutschen Bildungspolitiker - weil er sie alle durch das Land des ewigen Pisa-Siegers geleitete.
Domisch kommt aus Schwäbisch-Hall, seit 1979 lebte und arbeitete er in Finnland, erst der Liebe zu seiner Frau Maila wegen, später als Lehrer an der Deutschen Schule Helsinki und irgendwann als Mitarbeiter des wichtigen "Zentralamts für Unterrichtswesen".
Domisch hinterlässt eine Art politisch-pädagogisches Testament. Trotz einer schweren Erkrankung arbeitete er an einem Buch, das Hanser herausgibt: "Niemand wird zurückgelassen: Eine Schule für alle". "Wie ist es möglich, dass alle Kinder eines ganzen Jahrgangs neun Jahre in dieselbe Schule gehen?", lautet darin eine der Fragen an die finnische Schule. Domisch antwortet so: "Warum sollte eine so folgenreiche Entscheidung nach vier Grundschuljahren getroffen werden? Beim gegenwärtigen Bildungssystem handelt es sich um eine Selektion, und diese frühe Weichenstellung kann nicht so einfach rückgängig gemacht werden." Einmal fügte er an, "es ist nicht akzeptabel, wie deutsche Schüler abgestraft und beleidigt werden".
Das sind Sätze, die in Deutschland klingen, als kämen sie von einem Eiferer. Das aber wäre das Letzte, was man über Domisch sagen könnte. Debatten mit ihm gab es nicht, höchstens Gespräche - auch mit seinen Antipoden von der CDU. Denn der Deutsch- und Englischlehrer war ein Wandelversteher: Er wusste, dass "Schule für alle" geht - und wie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind