++Nachrichten zum Umsturz in Syrien++: Verdi warnt vor Syrien-Rückführungen
Syriens Übergangschef mahnt zur Ruhe. Kanzler Scholz schätzt die Lage im Land als gefährlich ein. Donald Trump zeigt für Syrien wenig Interesse.
Chef der Übergangsregierung in Syrien ruft zu „Ruhe und Stabilität“ auf
Der neue Chef der Übergangsregierung nach dem Sturz des Machthabers Baschar al-Assad in Syrien hat zu „Stabilität und Ruhe“ aufgerufen. In einem Interview mit dem Sender Al Jazeera sagte Mohammed al-Baschir am Dienstag, es sei nun für das Volk an der Zeit, „Stabilität und Ruhe zu genießen“ und zu wissen, dass die Regierung die Dienste erbringe, die es brauche. Al-Baschir hatte zuvor im Telegram-Kanal des syrischen Staatsfernsehens erklärt, er sei damit beauftragt worden, bis zum 1. März eine Übergangsregierung zu führen.
Bislang war al-Baschir der Chef der von der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) ausgerufenen Regierung in der Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten des Landes gewesen. Kämpfer unter Führung der HTS hatten am Wochenende die Hauptstadt Damaskus erobert und den langjährigen Machthaber Assad gestürzt.
HTS-Anführer Abu Mohammed al-Jolani hatte bereits Gespräche über eine Machtübergabe angekündigt und erklärt, an Folter und Kriegsverbrechen beteiligte hochrangige Ex-Beamte zur Verantwortung zu ziehen. Am Dienstag bemühte er sich, Befürchtungen über die Zukunft Syriens zu beschwichtigen: Dem britischen Sender Sky News sagte er, das Land steuere nicht erneut auf einen Krieg zu.
„Syrien wird wiederaufgebaut werden (…)„, sagte al-Jolani. „Das Land ist auf dem Weg zu Entwicklung und Wiederaufbau. Es geht in Richtung Stabilität.“ Die Menschen seien „vom Krieg erschöpft“, fuhr er fort. „Das Land ist also nicht bereit für einen weiteren und wird auch nicht in einen weiteren geraten.“
Die an der Spitze der Assad-Gegner stehende HTS war aus der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerkes al-Qaida hervorgegangen, hat nach eigenen Angaben aber seit 2016 keine Verbindungen mehr zu al-Qaida. Ihr Anführer al-Jolani präsentiert sich moderat.
US-Außenminister Antony Blinken forderte alle Nationen dazu auf, einen „inklusiven“ politischen Prozess in Syrien zu unterstützen. Die künftige Regierung in Damaskus müsse „glaubwürdig, inklusiv und nicht sektiererisch“ sein und verhindern, dass Syrien „als Basis für den Terrorismus“ genutzt werde, gab er an.
Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hält zwar keine syrischen Gebiete mehr unter ihrer Kontrolle, ist aber nach wie vor aktiv. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärte, IS-Kämpfer hätten 54 Soldaten der Regierung gefangengenommen und getötet.
Seit dem Beginn prodemokratischer Proteste im Jahr 2011, die zum Bürgerkrieg in Syrien führten, starben nach einer Schätzung der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte aus dem Jahr 2022 rund 100.000 Menschen in syrischen Gefängnissen, viele von ihnen durch Folter.
In einem Krankenhaus in der Nähe von Damaskus entdeckten islamistische Kämpfer nach eigenen Angaben am Montag etwa 40 Leichen mit Folterspuren. Der Nachrichtenagentur AFP liegen dutzende Fotos und Videoaufnahmen von Leichen vor, die Spuren von Folter aufweisen, darunter ausgestochene Augen und fehlende Zähne und Blutergüsse.
Derweil weitete Israel seine Luftangriffe auf das Nachbarland massiv aus. Nach eigenen Angaben flog die israelische Armee seit Sonntag bereits rund 480 Luftangriffe auf militärische Ziele in Syrien. Die Armee habe „einen Großteil der strategischen Waffenlager“ in Syrien ins Visier genommen und „verhindert, dass sie Terroristen in die Hände fallen“.
Zuvor hatte Israels Verteidigungsminister Israel Katz erklärt, die Marine seines Landes habe in der Nacht auf Dienstag „mit großem Erfolg die syrische Flotte zerstört“. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte die neuen syrischen Machthaber davor, ein Wiedererstarken des iranischen Einflusses in Syrien zuzulassen.
Unter Assad war Syrien ein wichtiger Bestandteil der vom Iran angeführten „Achse des Widerstands“ gegen Israel, zu der auch die Hisbollah-Miliz im Libanon und die Hamas im Gazastreifen gehören. „Wir hoffen, dass sich Syrien stabilisiert (…), sich entschieden gegen die israelische Besatzung stellt und gleichzeitig eine ausländische Einmischung in seine Angelegenheiten verhindert“, erklärte die Hisbollah am Dienstag. (afp)
Verdi warnt vor Syrien-Rückführungen in großem Stil
Nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad in Syrien warnt die Gewerkschaft Verdi vor Rückführungen von Syrerinnen und Syrern aus Deutschland in großem Stil. Verdi-Chef Frank Werneke sagte in einem Videointerview der Deutschen Presse-Agentur, große Rückführungen seien „gegen die Interessen der Menschen und übrigens auch gegen die Interessen der Arbeitswelt, zumindest in Teilen in Deutschland“.
Er rate „sehr dazu, dass mit einem kühlen Kopf an die Situation herangegangen wird“, sagte der Verdi-Vorsitzende. „Viele sind hier auf dem Arbeitsmarkt integriert und etabliert und auch wichtig für uns.“ Syrerinnen und Syrer arbeiteten etwa im Versandhandel, im Bereich der Zustellung oder in der Pflege. Viele seien Verdi-Mitglieder geworden.
Werneke forderte die Bundesregierung und Europäische Union auf, die Lage in dem von Instabilität bedrohten langjährigen Bürgerkriegsland genau zu verfolgen. Bei der Bildung einer Übergangsregierung müssten die Volks- und Religionsgruppen berücksichtigt werden. „Möglichst demokratische Verhältnisse“ müssten organisiert werden. „Das ist ja auch für die vielen Menschen, die in Deutschland als Geflüchtete sind, wesentlich für die weitere Perspektive.“
Aus eigenen Gesprächen in den vergangenen Tagen kenne er unterschiedliche Reaktionen von Syrerinnen und Syrern in Deutschland. Sie beobachteten die Lage in Syrien genau und freuten sich in der Regel sehr über Assads Sturz, betonte Werneke. „Viele überlegen auch, ob und wann sie nach Syrien zurückgehen“, sagte er. Doch für alle wichtig sei zunächst, was in dem Land nun überhaupt geschehe. (dpa)
Menschenrechtler sieht Gefahr für Israel durch syrische Islamisten
Der im kurdischen Teil Syriens geborene Menschenrechtler Kamal Sido sieht die Lage in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes als zunehmend gefährlich an. Es gebe immer mehr Berichte über Misshandlungen und Drangsalierung von Minderheiten durch Angehörige der nun regierenden islamistischen Miliz, sagte Sido in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Einige Islamisten kündigten sogar an, bis nach Jerusalem vorzurücken, um Israel und die Juden zu vernichten.
„Meine anfängliche Freude ist mittlerweile in Angst, Trauer und Bitterkeit umgeschlagen“, sagte der seit 34 Jahren in Deutschland lebende Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker mit Sitz in Göttingen. In Deutschland feierten vor allem die konservativ-muslimischen Syrer den Sturz Assads, sagte Sido. Er appellierte an die Demonstranten, deutlich zu machen, dass sie den Islamismus ablehnten. „Ihr lebt in einer Demokratie, in einer toleranten Gesellschaft, die euch mit großem Herzen aufgenommen hat.“ Islamismus dürfe weder in Deutschland noch in Syrien ein Vorbild sein. „Bitte habt keine Sympathie für eine Ideologie, die andere leugnet und verachtet.“
Die Islamisten in Syrien hätten bereits begonnen, Andersgläubige und Minderheiten zu bekämpfen, sagte Sido. Im Nordosten werde seit Montag auf Kurden geschossen. In Homs hätten sie einen Transporter mit alevitischen Frauen angehalten. Er befürchte, dass auch christliche Kirchen bald zum Angriffsziel werden könnten, sagte der promovierte Historiker. Sido warnte, dass bald nicht weniger, sondern mehr Menschen aus Syrien nach Deutschland fliehen könnten.
Dazu gehörten auch etwa 200.000 Kurden, die in den vergangenen Tagen von den Milizen vertrieben worden seien. Sie stammten aus Afrin und seien im Norden Aleppo untergebracht gewesen. „Viele von ihnen werden nach Deutschland kommen, weil sie hier bereits Verwandte haben“, sagte Sido, der selbst muslimischer Kurde ist. Der Nahost-Experte appellierte an die Politik in Deutschland, die syrischen Flüchtlinge nicht zurückzuschicken, sondern sich für eine Stabilisierung Syriens und den Aufbau einer Demokratie einzusetzen. Die Nato müsse den türkischen Präsidenten Erdogan dazu drängen, seinen Krieg gegen die Kurden zu beenden. Die meisten Syrer würden ohnehin zurückkehren, wenn das Land befriedet und nicht mehr von Islamisten beherrscht werde. Auch er selbst würde dann in seine Heimat Afrin zurückgehen. (epd)
Scholz: Noch „sehr, sehr gefährliche Situation“ in Syrien
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält eine Rückkehr syrischer Geflüchteter in deren Heimat für verfrüht. Noch gebe es in dem Land eine „sehr, sehr gefährliche Situation“, sagte Scholz am Dienstagabend in den ARD-„Tagesthemen“ zum Sturz des Diktators Baschar al-Assad durch die islamistische Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) vor wenigen Tagen. Deutschland müsse zusammen mit anderen Staaten alles dafür tun, dass ein demokratisch geführtes Land entsteht, in dem Menschen unterschiedlicher Religionen gut zusammenleben können. „Vielleicht, wenn es gut geht, werden ja viele von sich aus sagen, dass sie am Wiederaufbau ihres Landes mit teilhaben wollen“, sagte Scholz.
Wegen des Bürgerkrieges in Syrien, der 2011 mit einem Volksaufstand gegen das Assad-Regime begonnen hatte, waren Hunderttausende aus dem Land nach Deutschland geflohen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums leben knapp eine Million Syrerinnen und Syrer in Deutschland.
Die Neue Zürcher Zeitung kommentiert am Mittwoch die Debatten um die Rückkehr syrischer Flüchtlinge:
„Die Flüchtlingskonvention von 1951 ist eindeutig: Ein Widerruf des Schutzes ist möglich, wenn eine positive Veränderung im Herkunftsland eintritt, „die dauerhaft und nicht bloß vorübergehend ist“.
Der Sturz Assads hat die syrischen Gemeinschaften in Europa in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt. Die Hoffnung auf einen Neuanfang mischt sich mit der Sorge, dass eine neue Runde der Gewalt bevorsteht. Gehen oder bleiben? Bei den meisten lautet die Antwort wohl: abwarten. (…)
Sollte sich aber die Chance bieten, das zerstörte Land dank einigermaßen stabiler Bedingungen wieder aufzubauen, sollten die europäischen Staaten tatkräftig mithelfen. Das würde es den „europäischen Syrern“ erleichtern, bei dem Neuanfang mitzumachen, wozu sie die neue Führung bereits aufgerufen hat. Aber auch die unfreiwillige Rückkehr ist politisch akzeptabler, wenn Europa gleichzeitig seinen Beitrag für den Wiederaufbau leistet. Allerdings muss sich der Kontinent auch auf ein ganz anderes Szenario vorbereiten: dass die Fluchtbewegung aus dem Land sich wieder verstärkt. (epd/dpa)
Syrien jetzt Neuland auch für die US-Diplomatie
In sechs Wochen ist Donald Trump im Amt, aber der künftige US-Präsident hat wenig Lust, sich mit den historischen Umwälzungen in Syrien zu befassen. Syrien sei ein einziges Chaos, „das ist nicht unser Kampf“, die USA sollten damit nichts zu tun haben, erklärte er bei seinem Wochenendausflug nach Paris, während die islamistischen Milizen auf Damaskus zumarschierten.
Wenige Stunden später war die Herrschaft von Baschar al-Assad Geschichte, sein Verbündeter Russland bloßgestellt und in dem strategisch wichtigen Land ein Vakuum entstanden, das die Chance für eine Neuordnung im Nahen Osten birgt. Eine Nichteinmischung dürfte sich in einer solchen Situation kaum durchhalten lassen.
Die noch amtierende Regierung von Präsident Joe Biden reagierte schnell: Ein Geschwader von US-Kampfflugzeugen stieg auf und bombardierte noch am Tag von Assads Sturz dutzende Stellungen der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) im Zentrum Syriens.
„Wir werden nicht zulassen, dass sich der IS neu formiert und die derzeitige Situation in Syrien ausnutzt“, erklärte Centcom-Befehlshaber Michael Kurilla. Zugleich rückte Israel mit Washingtons Segen – allerdings nur für eine „vorübergehende Maßnahme“ – in die von der UNO an der Grenze errichtete Pufferzone ein, um die Postierung von Israel-Feinden in Grenznähe in einer Art Vorneverteidigung zu verhindern.
Ein Zerfall Syriens ist ebenso wenig im Interesse Washingtons wie ein Wiedererstarken der IS-Extremisten in der Region, deren Kalifat im Irak und in Syrien mühselig mit Hilfe einer internationalen Allianz niedergerungen wurde. Die USA müssten sich definitiv weiterhin mit den Gefahren durch IS und Al-Kaida auseinandersetzen, sagt Steven Cook vom Council on Foreign Relations in Washington. Derzeit sind noch rund 900 US-Soldaten im Süden Syriens stationiert. „Wenn es aber darum gehen sollte, sich in die Gestaltung der Politik in Syrien einzumischen, kann daraus nichts Gutes entstehen.“
Seit der Präsidentschaft von Barack Obama haben die USA eine zurückhaltende Linie in Syrien gefahren, Kritiker sprachen von einer nicht vorhandenen Syrien-Politik. Die Supermacht sprach Assad die Legitimität ab, forderte, dass er für die brutale Unterdrückung seines Volkes zu Rechenschaft gezogen werden solle, tat aber ansonsten nicht viel, um eine Entmachtung voranzutreiben. Die Alternative zu dem Herrscher in Damaskus – ein Land in der Hand islamistischer Milizen – schien nicht viel besser.
Nun hat die islamistische Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) die Macht in Syrien an sich gerissen, ihre Ende November gestartete Offensive kam praktisch aus dem Nichts, und die Geschwindigkeit, mit der Assad gestürzt wurde, schien selbst die USA überrascht zu haben. Die HTS hat ihre Wurzeln im syrischen Ableger von al-Qaida – und wird von den USA nach wie vor als Terrororganisation eingestuft.
Der bisher letzte US-Botschafter in Syrien, Robert Ford, war im Jahr 2012 an dieser Einstufung beteiligt. Aber seither habe die Miliz keine westlichen Ziele mehr angegriffen, sondern sei ihrerseits in ihren Hochburgen im Nordwesten Syriens gegen den IS und al-Qaida vorgegangen, sagt Ford.
Der Ex-Botschafter verweist auch auf die zuletzt moderaten Äußerungen von HTS-Chef Abu Mohammed al-Jolani, der unter anderem eine internationale Beobachtermission zur Überprüfung der Chemiewaffenbestände in Syrien zulassen will. Zwar sei al-Jolani mit Sicherheit „autoritär und ein Islamist, der Christen bestimmt nicht die gleichen Rechte zubilligt wie Muslimen“, sagt Ford. Dennoch müsse ihm nun die Gelegenheit gegeben werden, sich zu bewähren.
Dabei sollte die US-Diplomatie nach Ansicht des Syrien-Kenners die HTS und andere syrische Akteure ermutigen, auf die verschiedenen Gruppen des Landes zuzugehen und diese zu befrieden, darunter Christen, Kurden und auch die Alawiten, die religiöse Gemeinschaft Assads.
Ansonsten solle Washington Zurückhaltung üben und den Syrern die Entscheidung über ihre Zukunft überlassen, sagt Ford. „Wir müssen aus den Erfahrungen im Irak lernen.“ Der Versuch, „einer durch eine brutale Diktatur und einen Krieg traumatisierten Bevölkerung“ westliche Konzepte aufzuzwingen, sei sicherlich kein Erfolgsrezept.
In seiner ersten Amtszeit (2017–2021) hatte Trump kein Konzept für Syrien entwickelt. Aber er hatte keinerlei Berührungsängste, mit ausländischen Akteuren zu verhandeln, die seit Jahren auf der schwarzen Liste der US-Diplomatie standen, seien es die Taliban in Afghanistan oder Kim Jong Un in Nordkorea. Rechtlich spreche nichts dagegen, mit einem als Terroristen geführten Mann von US-Seite Kontakt aufzunehmen, sagte Außenamtssprecher Matthew Miller. (afp)
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