Nach transfeindlicher Attacke in Hamburg: Sozialtraining für den Täter
Ein Hamburger Gericht verurteilt einen 22-Jährigen wegen des Angriffs auf die Drag-Queen Samia Stöcker. Der Täter muss reflektieren und zahlen.
Ein Jugendschöffengericht verurteilte ihn am Mittwoch zur Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training und einem Schmerzensgeld in Höhe von 4.500 Euro. Zudem wurde er verpflichtet, für Stöckers künftige Behandlungskosten aufzukommen. Richterin Eda Bacak begründet das Urteil damit, dass es für S. kein Grund zur Notwehr gegeben und er für seinen Schlag gezielt das Gesicht ausgewählt habe.
Nach dem Schlag von S. war Stöcker auf den Hinterkopf gefallen, hatte einen Schädelbruch erlitten und kurzzeitig das Bewusstsein verloren. Sie musste notoperiert werden. Während das Video einer Überwachungskamera, das den Vorfall teilweise aufgezeichnet hat, bei der Verhandlung gezeigt wird, verlässt sie immer wieder den Saal. Als sie Anfang Januar aussagt, schildert sie, dass sie seit der Tat „schwer traumatisiert“ sei, zudem können sie seitdem nicht mehr als Dragqueen arbeiten. „Mein Kopf funktioniert nicht mehr.“
Das Video ist das zentrale Beweisstück. Es stammt aus einem Laden der Fastfood-Kette KFC, vor dem sich die Tat abgespielt hat. Eine der Kameras, die eigentlich den Innenraum des Ladens zeigen soll, erfasst durch ein Fenster auch einen Teil dessen, was davor passiert. Am zweiten Prozesstag wird immer wieder die entscheidende Sequenz abgespielt. Zu sehen ist eine Gruppe Jugendlicher, die vor dem Laden steht. Stöcker geht mit einer anderen Person aus dem Restaurant und an der Gruppe vorbei. Im letzten Moment dreht sie sich abrupt um und spricht einen der Jugendlichen an.
Der Angeklagte schweigt, sein Anwalt sucht die Mitschuld
Einen Moment später kommt von links der Arm einer Person im weißen Oberteil ins Bild – es ist der Arm von Fabio S. Er schubst Stöcker zur Seite. Daraufhin geht sie sichtlich aufgebracht auf ihn los: Zu sehen ist ein leichter Schlag und ein Schubsen mit beiden Händen. Ob der Schlag S. trifft, ist nicht zu erkennen. S. weicht zurück. Im nächsten Moment kommt von S. ein Schlag in Stöckers Gesicht, sie fällt daraufhin mit dem Kopf zuerst nach hinten.
Der Angeklagte schweigt während des gesamten Prozesses zu den Vorwürfen. Sein Verteidiger Christian Lange stellt immer wieder die Frage, welchen Anteil die Geschädigte an der Eskalation der Gewalt hatte. Sogar ein Zeuge, der mit Stöcker befreundet und an dem Abend mit ihr unterwegs war, zeigt einen kritischen Blick auf ihr Verhalten. Vor Gericht sagt er, seit dem Vorfall hätten die beiden wenig Kontakt; seitdem sei es „nicht mehr so wie es war“.
Stöcker habe ihm im Nachhinein vorgeworfen, nicht eingeschritten zu sein. „Warum hast du nichts getan?“, soll sie am Telefon gefragt haben. „Ich war einfach überfordert, ich wollte sie ja nicht im Stich lassen“, sagt er vor Gericht. Laut seiner Aussage hätten die Jugendlichen „was gesagt, das ihr nicht gefallen hat.“ Er nennt ein transfeindliches Wort.
Der Polizist, der diesen Zeugen nach dem Vorfall vernommen hat, habe gefragt, ob er oder Stöcker an dem Abend „auffällig“ gewesen seien. Das zitiert der Verteidiger aus dem Vernehmungsprotokoll. In diesem Moment geht ein Seufzen durch das Publikum, in dem sich auch ein paar Personen zur Unterstützung von Stöcker versammelt haben. „Vielleicht vom Outfit her?“, antwortet der Zeuge vor Gericht. Er wisse nicht, ob Stöcker „sich da mit der richtigen Person angelegt hat. Wenn jemand etwas wegen ihrem Aussehen sagt, dann flippt sie halt aus und versucht, sich zu verteidigen“.
Ein anderer Zeuge, der den Streit aus ein paar Metern Entfernung beobachtet hat, sagt vor Gericht, dass er lediglich Stöcker habe schreien hören. Sie habe „auf sich aufmerksam gemacht“. Es sei ihm „ein bisschen so vorgekommen, als würde sie einen auf ‚Ich bin anders und ich bin stolz‘ machen“. Ein bisschen gefährlich, so ein Verhalten auf dem Kiez, urteilt er. Er erzählt auch, dass Stöcker ihm schon aufgefallen sei, bevor er sie am KFC gesehen hat: weiter unten auf dem Kiez, bei einer verbalen Auseinandersetzung. „Es war provokant, wie die trans Frauen sich verhalten haben. Früher oder später wäre eh was passiert.“
Eine weitere Zeugin sagt aus, dass jemand aus der Gruppe junger Männer gesagt haben soll: „'Geh weg, wir wollen keinen Stress’.“ Der Verteidiger fragt sie, ob die Männer die Möglichkeit gehabt hätten, sich der Situation zu entziehen. Nein, sagt die Zeugin, der Weg sei versperrt gewesen.
Verteidiger Lange konfrontiert sie dann mit dem Protokoll ihrer Vernehmung bei der Polizei: Sie habe die Frage bejaht, ob sie das Verhalten von Stöcker als provokant empfunden habe. Vor Gericht sagt sie dazu: „Die Frau sah schon sehr anders aus, als es die Norm ist.“
Im Video ist zu erkennen, dass Stöcker High Heels, einen kurzen Rock und ein Oberteil mit dünnen Trägern trägt – ein normales Party-Outfit. Der Anwalt von Nebenklägerin Stöcker fragt, was ihr Aussehen mit Provokation zu tun habe. „Das Aussehen ist nicht provokant, aber das Auf-die-Person-Zugehen und In-die-Ecke-Treiben“, sagt die Zeugin.
Bei der Verhandlung ging es nicht nur um die Attacke gegen Stöcker, sondern auch um einen Messerangriff an der U-Bahn-Station in Hamburg-Billstedt, an dem der Angeklagte beteiligt war. Der Staatsanwalt forderte als Strafe für die Vergehen einen sozialen Trainingskurs von 15 Stunden sowie 60 Stunden gemeinnützige Arbeit. Er wies in seinem Plädoyer auf die „erheblichen schweren Folgen“ für Stöcker hin, bei der Tat sei zudem eine „Missachtung der Transsexualität“ deutlich geworden.
Nach Ansicht von Verteidiger Lange dagegen hatte der Angeklagte seinem Bekannten mit dem ersten Schubser helfen wollen, als Stöcker verbal nicht von ihm ablassen wollte. Er bezieht sich immer wieder auf das Überwachungsvideo als „objektiven Beweis“ und will „einen deutlichen Schwinger“ von Samia Stöcker gesehen haben, den sein Mandant nur habe abwehren wollen. Den entscheidenden Schlag habe er aus Notwehr ausgeübt. Es sei „extrem unglücklich“, wie Stöcker daraufhin gefallen sei.
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