piwik no script img

Nach der Grenfell-Katastrophe in LondonEvakuierungen im großen Stil

Hunderte Menschen müssen ihre Wohnung verlassen. Die Außenfassaden mehrerer Hochhäuser gelten als brandgefährlich.

Sehr kurzfristig mussten viele Menschen ihre Sachen packen, um evakuiert zu werden Foto: reuters

Dublin taz | Rund 80 Menschen harrten am Sonntag noch in ihren Wohnungen in der Chalcots-Siedlung im Londoner Stadtteil Camden aus. Die Bezirksverwaltung will sie evakuieren, um die Verkleidung an den Hochhausblocks abzumontieren. Es handelt sich dabei um dasselbe Material aus Aluminium und Plastik, das dafür gesorgt hatte, dass sich das Feuer im 24-stöckigen Grenfell Tower in Kensington so schnell ausbreiten konnte. Dabei kamen 79 Menschen ums Leben.

Beamte von der Bezirksverwaltung gingen am Sonntag in Chalcots von Tür zu Tür, um die Bewohner zu überreden, ihre Wohnungen zu verlassen. Andernfalls können die Arbeiten, die zwei bis vier Wochen dauern sollen, nicht beginnen. Ein Beamter sagte, man habe zwar eine rechtliche Handhabe, um die Leute zwangsweise zu evakuieren, aber man würde dieses Mittel nur ungern anwenden.

In der Nacht zum Samstag wurden 650 Wohnungen in der Chalcots-Siedlung geräumt. Viele Bewohner beschwerten sich, dass man ihnen kaum Zeit gegeben habe, ihre Sachen zusammenzupacken. Manche hatten erst aus dem Fernsehen von der Maßnahme erfahren. Einige zogen zu Freunden, die anderen kamen in Hotelzimmern unter oder mussten in Turnhallen übernachten.

Andere Bezirksverwaltungen haben von Evakuierungen bisher Abstand genommen. Stattdessen setzen sie Patrouillen rund um die Uhr ein. Vielerorts hat man begonnen, die Verkleidungen abzumontieren oder nachträglich Sprinkleranlagen zu installieren. Die Firma Celotex, die in Grenfell die Verkleidung für 8,6 Millionen Pfund angebracht hat, erklärte, das Material werde ab sofort nicht mehr verwendet.

Premierministerin Theresa May hat eine Untersuchung angeordnet, um herauszufinden, ob die Kühl-Gefrierkombination der Firma Hotpoint, die das Feuer in Grenfell ausgelöst hat, einen Designfehler aufweist und aus dem Verkehr gezogen werden muss. Scotland Yard erklärte, dass die Verantwortlichen für das Feuer möglicherweise mit einer Anklage wegen Totschlags rechnen müssen. Kriminalkommisarin Fiona McCormack sagte aber, man wisse nicht, ob überhaupt Gesetze verletzt worden seien.

Schwache Brandschutzbestimmungen

Die Gesetze über Sicherheitsstandards sind in den vergangenen Jahren gelockert worden. Bis zu dem verheerenden Brand wollte die Regierung die Brandschutzbestimmungen für Schulen weiter abschwächen. Ron Dobson, Londons Brandschutzbeauftragter, sowie zahlreiche Abgeordnete warnten, dass die Pläne katastrophale Folgen haben könnte.

„Die Anzahl von Bränden in Schulen sei zurückgegangen“, entgegnete der zuständige Staatssekretär Nick Gibb jedoch. „Sprinkleranlagen würden die Baukosten um 2 bis 6 Prozent erhöhen. Diese zusätzlichen Kosten stehen in keinem Verhältnis zu den bescheidenen Ersparnissen durch geringere Schäden an Gebäuden.“

Davon will man jetzt nichts mehr wissen. David Amess, der Tory-Abgeordnete und Vorsitzende des Unterhaus-Ausschusses für Brandschutz, sagte, es sei verrückt, dass die Zahl der neuen Schulen, die mit Sprinkleranlagen ausgerüstet wurden, von 70 Prozent unter Labour auf heute 35 Prozent gefallen sei.

Nach der Katastrophe von Grenfell hat man die geplanten neuen Richtlinien schnell von der Webseite gelöscht. Ministerialbeamte behaupteten nun, man habe nie vorgehabt, die Brandschutzbestimmungen zu verwässern. „Wir betonen“, sagte ein Beamter zum Observer, „dass wir die Bestimmungen verschärfen werden.“

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Brandschutz ist Lebensschutz. Dass immer wieder versucht wird, Brandschutz als „Gedöns“ abzutun, den man sich doch im Grunde sparen könne, läßt sich leider auch in Deutschland beobachten. Man kann das nicht anders als kriminell nennen, wo man doch mittlerweile genau weiß, wie wenig die betroffenen Menschen im Brandfall auf eine solche Situation eingestellt sind und wie wenig Zeit ihnen dann in aller Regel für die eigene Rettung noch bleibt.

    Da werden wie selbstverständlich die abenteuerlichsten Konstruktionen und Materialien verbaut, in der stillen Hoffnung, es wird schon keinem auffallen. Nur wenn wirklich unabhängige Sachverständige den Pfusch mal genauer unter die Lupe nehmen, oder erst nach einer verheerenden Brandkatastrophe, gibt es hier und da dann auch mal spürbare Konsequenzen. Ich sage hier nur: BER