Nach der Explosion im Hafen von Beirut: Jedes Metallstück ein stiller Zeuge
Der Libanon versteigert Metallschrott der Explosion am Hafen vor drei Jahren. Die Angehörigen der Opfer klagen: so verschwinden Beweismaterialien.
Bei der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 gingen – nach Angaben der damaligen libanesischen Regierung – 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft. Durch die Detonation in der Hauptstadt des Libanon starben mindestens 220 Menschen, rund 6.000 wurden verletzt, die Häuser von 30.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zerstört.
Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen schätzt den von der Explosion hinterlassenen Schutt und Metallschrott im Hafen auf 397.000 Tonnen. Eingedelltes Gestänge, kaputte Autogehäuse und zerquetschte Schiffscontainer wurden einige Monate nach der Explosion zur Seite geräumt. Die giftigen Chemikalien Salzsäure, Aceton, Wasserstoffperoxid und Flusssäure, sowie verunreinigter Abfall wurden zur sicheren Entsorgung nach Deutschland gebracht.
Im Oktober startet die öffentliche Auktion für den übergebliebenen Metallschrott. Das Startgebot liegt bei 750 US-Dollar.
Hisbollah und Verbündete behindern die Untersuchungen
Eigentlich eine gute Sache: Das Metall wird als Recyclingware verkauft, mit dem Gewinn die maroden Staatskassen gefüllt. Doch die Untersuchungen zum Hergang der Explosion sind noch nicht abgeschlossen. Seit zwei Jahren steht die Untersuchung still, der Generalstaatsanwalt hat mittlerweile alle 17 Verdächtigen aus dem Gefängnis entlassen. Bis heute wurde niemand belangt. Politiker behindern die innerstaatliche Untersuchung – hauptsächlich die schiitische, von Iran unterstützte Partei und Miliz Hisbollah, sowie ihre Verbündeten, der Justizminister und Generalstaatsanwalt.
Mariana Fodoulian, Angehörige eines Explosions-Opfers
Statt die Untersuchung wieder aufzunehmen, fokussiert sich die Übergangsregierung auf Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte im Hafen. Minister Hamieh gab an, die Versteigerung zeige, dass der Hafen von Beirut keine „Geisel lokaler und internationaler politischer Spannungen“ sei. Die monatlichen Einnahmen des Hafens beliefen sich auf über 10 Millionen Dollar. Ein französisch-libanesisches Unternehmen hatte die Geschäfte im Februar 2022 übernommen.
Für viele Menschen in Beirut ist der Hafen ein Tatort – solange, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. So auch für Mariana Fodoulian. Ein Verbrecher behalte die Beweise oder Zeugen seines Verbrechens nicht, sagt sie. „Das ist das Erste, was sie loswerden wollen.“ Mariana Fodoulian hat ihre Schwester Gaïa durch die Explosion im August 2020 verloren. Seitdem ist sie Teil des Zusammenschlusses der Angehörigen der Explosionsopfer. Seit drei Jahren demonstrieren sie jeden Monat vor dem Hafen in Beirut für Aufklärung und Gerechtigkeit.
„Mal geht es um das Metall, mal um die Silos, mal um die Ermittlungen. Sie tun alles, um uns zum Aufhören zu bewegen oder uns zu schwächen. Aber wir werden weiterhin für jedes Beweisstück kämpfen, das wir für die Ermittlungen benötigen. Um jedes Stück, das wir brauchen, um die Menschen immer wieder an die Explosion zu erinnern.“
Die Kampagne der stummen Zeugen
Die Familien haben gemeinsam mit Ingenieur*innen die „Kampagne der stummen Zeugen“ gestartet. Darin fordern sie, die Weizensilos und Teile des Hafens als Zeugen des Geschehens vom 4. August zu erhalten.
Es waren die Betonmauern der Weizensilos, die den Westteil Beiruts vor der Druckwelle abschirmten. Vergangenes Jahr kollabierten Teile der Betonzylinder. Im April 2022 beschloss das libanesische Kabinett den Abriss der Silos. Doch sie stehen bis heute – wie ein Mahnmal. Im August dieses Jahres wandte sich der geschäftsführende Wirtschaftsminister Amin Salam an Kuwait und fragte nach finanzieller Hilfe für den Wiederaufbau der Getreidesilos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen