Nach der Dschihadisten-Offensive im Irak: Letzte Ausfahrt vor Isistan
Die Armee ist geflohen, jetzt stehen sich die Dschihadisten und kurdische Peschmerga-Kämpfer vor den Toren Mossuls gegenüber.
KOKJELI taz | Die ersten Häuser tauchen auf, ein paar Werkstätten sind zu sehen und ein hoher Mast mit Mobilfunkantennen. Hier beginnt das „Emirat Nineve“, das Herrschaftsgebiet der dschihadistischen Miliz Islamischer Staat im Irak und Syrien (Isis). „Genau dort ist ihr Checkpoint“, sagt ein Lkw-Fahrer und deutet auf die Antennen. Im Handstreich hatten die Extremisten die zweitgrößte Stadt im Irak am 10. Juni eingenommen. Die mit mehreren Zehntausend Mann zahlenmäßig haushoch überlegene Armee sowie die Polizei hatten ihnen nach viertägigen Kämpfen das Feld überlassen.
Die Spuren des hastigen Rückzugs kann man ein paar Hundert Meter weiter, an einem anderen Checkpoint sehen. Hier schieben vier Peschmerga, die treu ergebenen Kämpfer für die kurdische Sache, Dienst. Am Straßenrand liegen vier braune Geländefahrzeuge, eines ist völlig zerbeult, ein anderes hat platte Reifen.
„Das ist es, was von der irakischen Armee übrig geblieben ist“, sagt einer der kurdischen Kämpfer. Ein Betonunterstand und ein paar niedrige Barrikaden markieren den Posten. „Der letzte Grenzposten der Peschmerga“ hat jemand auf die Barrikaden gesprüht. Es ist eine Warnung: Wer weiterfährt, riskiert sein Leben. Zugleich ist der Posten so etwas wie der „Checkpoint Charlie“ des Nordirak, die neue Frontlinie zwischen dem Isis-Staat und Kurdistan.
Warum die Armee und die paramilitärische Bundespolizei fast kampflos aus Mossul abgezogen sind, darüber wird im Irak heftig spekuliert. Fest steht bisher nur: Mit der Einnahme der zweitgrößten Stadt des Landes durch die Extremisten droht die fragile Neuordnung, die nach dem Einmarsch der Amerikaner vor elf Jahren entstanden ist, in Flammen aufzugehen.
Minderheit: Im Irak mit seinen etwa 34 Millionen Einwohnern stellen die Kurden etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung und somit die größte ethnische Minderheit des Landes. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind Sunniten. Eine Minderheit gehört verschiedenen schiitischen Strömungen an, eine andere sind die Jesiden, die vor allem in der Provinz Nineve leben. Der Glaube der Jesiden kombiniert Elemente verschiedener Religionen. Kurdisch ist neben Arabisch offizielle Sprache im Irak.
Autonomie: Vor den jüngsten Eroberungen umfasste die autonome kurdische Region im Nordirak mit der Hauptstadt Erbil über 40.000 Quadratkilometer und ist damit etwa doppelt so groß wie Hessen. Nach dem Golfkrieg 1991 schützte eine Flugverbotszone der USA die kurdischen Gebiete vor Angriffen der irakischen Armee; seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 verfügen die Kurden über ein eigenes Parlament, eine Regierung und einen Ministerpräsidenten. Staatspräsident des Iraks ist der Kurde Jalal Talabani. (b.s.)
Macht-Demonstration der Sadr-Miliz
Die Kämpfe haben sich seitdem wie ein Lauffeuer von Mossul ausgebreitet – über Tikrit im Zentralirak bis nach Abu Ghraib nahe Bagdad. Um die Lücken zu füllen, die Desertionen und hohe Verluste in die Armee gerissen haben, hat Ministerpräsident Nuri al-Maliki, ein Schiit, schiitischen Milizionären freie Hand gegeben. Die kämpfen mittlerweile an vorderster Front.
Mit Raketenwerfern, Panzerfäusten und improvisierten Bomben marschierten am Samstag Tausende Kämpfer des unberechenbaren Geistlichen Muktada al-Sadr durch Bagdad. Sogar eine Reitereinheit boten die unformierten oder schwarz vermummten Milizionäre auf. Es war eine Machtdemonstration, mit der der Irak weiter an den Abgrund eines erneuten schiitisch-sunnitischen Kriegs gerückt ist.
Die Milizionäre sind für den Mord an Tausenden von Sunniten verantwortlich. Im Gegensatz zu dem Krieg zwischen Schiiten und Sunniten vor ein paar Jahren stehen heute nicht nur auf sunnitischer, sondern auch auf schiitischer Seite ausländische Kämpfer. Der schiitische Nachbar Iran hat der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad ganz offen militärische Unterstützung angeboten. Die sunnitischen Golfstaaten dürften dem ebenso wenig tatenlos zusehen, wie sie es in Syrien getan haben, wo sie die sunnitischen Rebellen unterstützen.
Derweil haben die Kurden im Norden des Irak nicht nur die begehrte Erdölstadt Kirkuk, sondern zahlreiche weitere Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Der Peschmerga-Checkpoint in Kokjeli vor Mossul ist jetzt ihr westlicher Außenposten. Er liegt mitten in den zwischen Arabern und Kurden umstrittenen Gebieten östlich des Tigris, der Mossul in eine West- und in eine Osthälfte teilt.
Vor Jahren hatten die Amerikaner einen Kompromiss zwischen Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Erbil ausgehandelt, demnach der Checkpoint von irakischen Soldaten und Peschmerga gemeinsam bewacht wurde. Damit ist es endgültig vorbei. „Das Gebiet hier gehört jetzt zu Kurdistan“, sagt ein Offizier. Werden sie nach Westen vorrücken, um auch die anderen von den Kurden beanspruchten Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen? „Nein. Wir sind hier nur zur Verteidigung.“ Es klingt einstudiert, und das ist es wohl auch.
„Isis ist besser als die Regierung“
Während sich die Kurden bei Kirkuk und weiter im Südosten mit den Extremisten und lokalen Aufständischen heftige Gefechte liefern, gibt es bei Mossul zwischen beiden Seiten so etwas wie einen Waffenstillstand. Seit einer Woche ist es ruhig. „Wir greifen sie nicht an, und sie greifen uns nicht an“, sagt der Offizier. Das könnte sich irgendwann ändern. „Wenn wir den Befehl bekommen, rücken wir mit Panzern ein“, entfährt es einem der Untergebenen.
Derzeit wollen aber auch die Extremisten offenbar vor allem eines: Ruhe, um ihr Regime zu festigen, das künftig vom syrischen Rakka bis nach Mossul reichen könnte.
Die Isis-Kämpfer hätten in der Millionenstadt am Tigris die verhassten Barrikaden beseitigt, Spitäler arbeiteten normal, und sie ließen die Bürger weitgehend in Ruhe, sagt am Checkpoint jeder, der aus der Stadt kommt. Zwar klagen die meisten über Wasser- und Stromknappheit, aber es gibt – vielleicht wenig überraschend – keine Bombenanschläge mehr.
„Die Isis ist besser als die Regierung“, sagt der Lastwagenfahrer Saddam Khalaf. Selbst die sechs Frauen, die sich mit neun Kindern in einen Kleinbus gezwängt haben, finden keine bösen Worte. Sie sind auf der Flucht, aber nicht vor den Extremisten, sondern vor der Regierung. Diese habe am Morgen ihr Dorf angegriffen. Die Isis habe sie in Ruhe gelassen, sagt Hajiye Nadhima. „Aber die Regierung bombardiert uns.“
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