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Nach den Bränden in Los AngelesVerdrängung aus der Traumstadt

Los Angeles ist nicht nur Glamour, sondern auch Mittelstand und Blue Collar. Die Brände könnten nun die Gentrifizierung weiter eskalieren.

Ein Vater zieht seinen Sohn vor verbrannten Ruinen entlang Foto: Erin Schaff/NYT/Redux/laif

Einige Tage, nachdem die Feuer durch Altadena gezogen waren, wurde es öffentlich: auch der legendäre Musikproduzent Madlib ist von den zerstörerischen Bränden in Los Angeles betroffen und mit ihm auch seine extensive Plattensammlung. Sie legte den Grundstein für die Karriere des Hiphop- und Jazzmusikers, der Samples aus obskuren Alben zu vielschichtigen, überraschenden Kompositionen verband. Sein Schicksal teilt Madlib mit vielen Menschen in Los Angeles und insbesondere mit seinen Nachbarn im Wohngebiet Altadena, einer historisch afroamerikanischen Gegend und einem beliebten Wohngebiet für Menschen aus kreativen Industrien, die eben nicht zu den wenigen Spitzenverdienern in Musik, Film und Kunst gehören.

Auch ein Madlib gehört nämlich, trotz weltweiten Bekanntheitsgrads, eben zur Mittelschicht der Musikindustrie. Neben seiner schimmernden, glänzenden Oberfläche ist Los Angeles nicht trotz, sondern genau wegen seines Nimbus als eines der weltweiten Zentren für Kulturwirtschaft und Entertainment eine Stadt, die von Arbeiterschaft und unterem Mittelstand dominiert wird. „Los Angeles is a proud blue collar city“, heißt es in vielen Tributen an die Stadt auf Social Media, Los Angeles sei eine stolze Arbeiterstadt, eine Stadt der Migranten, eine Stadt der Träumer und Hustler.

16,5 Prozent der Einwohnerschaft leben unter der Armutsgrenze, das durchschnittliche Haushaltseinkommen lag 2023 mit rund 80.000 Dollar mehr als 16.000 Dollar unter dem Rest Kaliforniens. Bei den höheren Lebenshaltungskosten in den USA und insbesondere der grassierenden Wohnungsnot in der Los Angeles Metro Area bedeutet das für viele schon unter normalen Umständen, am Monatsende nur noch wenig bis nichts auf dem Konto zu haben. Wie es nach dieser außerordentlichen Naturkatastrophe aussehen wird, ist noch gar nicht abzuschätzen.

Neben den wenigen Weltstars, die Millionengagen verlangen können, und Produzentinnen, die Millionenbudgets verwalten, gibt es die Hunderttausende, die für Lichttechnik zuständig sind, für Kostüme oder Setdesign. Die Session­musiker, die Newcomer, die Schauspieler, die noch auf ihren Durchbruch warten oder bei denen der Durchbruch schon eine Weile her ist. Die Ausstellungsdesigner und Runner, die Maler und Bildhauer, die nebenbei noch im Café oder als Nanny arbeiten oder Uber fahren, um in der sich immer weiter verteuernden Stadt über die Runden zu kommen. Oder jene, deren Einkommen für ein bequemes Leben reicht, aber eben nicht für mehr.

Leben alles andere als glamourös

Selbst in dem nahezu vollständig abgebrannten Pacific Palisades und im Surferparadies Malibu, die zwar durch Jahrzehnte von Gentrifizierungstendenzen immer homogener geworden sind, leben noch Familien, die unter den vagen Begriff der „Normalverdiener“ fallen. Der Glamour der Stadt der Engel basiert auf der Arbeit von Millionen, deren Leben alles andere als glamourös ist. Der Fokus auf all die sogenannten Promis, die ihre Häuser haben brennen sehen, auf Bill Kaulitz’ Louis-Vuitton-Kofferset bei der Evakuierung, verdeckt den Blick auf die Herausforderungen, denen die Mehrheit der Stadt gegenüber steht.

Denn dieses Leben im Prekären zeichnet Los Angeles aus, mehr noch als Louis-Vuitton-Koffer. Und zwar nicht nur finanziell, sondern auch ideell. Es braucht eine besondere Form der Risikobereitschaft oder auch Realitätsverweigerung, um das Leben in der sogenannten Traumfabrik zu ertragen und das Streben nach diesen Träumen zum Lebenskonzept zu erheben.

„Teufelswinde“

Neben den wirtschaftlichen Herausforderungen, die das Leben in der sich immer weiter verteuernden und gleichzeitig von wirtschaftlichem Abschwung betroffenen Stadt mit sich bringt, zeigt sich das auch in dem Zusammenleben zwischen Mensch und Natur. Eine Natur, die das Leben in der Stadt einerseits in ein goldenes Licht taucht, andererseits aber andauernd mit seiner Zerstörung droht. Durch Erdbeben, Tsunamis oder eben durch die regelmäßigen Santa-Ana-Winde, die nicht ohne Grund auch „devil winds“, also „Teufelswinde“, genannt werden, und Waldbrände anfachen.

Malibu insbesondere gilt, so beschrieb es der Stadtsoziologe Mike Davis in seinem Buch „Ökologie der Angst“ von 1992, als die „Lauffeuer-Hauptstadt Nordamerikas und wahrscheinlich der Welt“. Dort brenne es mindestens alle zwei Jahre, so mancher Hausbesitzer erlebte innerhalb einer Generation schon mehrere vernichtende Feuer. Die Vegetation der Region, Chaparral genannt, hat sich daran angepasst: Pflanzen mit kleinen harten Blättern, die die Verdunstung einschränken, dicker Rinde, die gegen kleinere Feuer schützt, und Sämlingen, die besonders gerne in nährstoffreicher Asche wachsen. Der Mensch dagegen hat sich nicht mit der Ökologie der Gegend arrangiert – im Gegenteil. In seiner Bauwut und seinem Landhunger ist er tief in die Feuerregionen eingedrungen, wider besseres Wissen.

Streben nach Anerkennung und Selbstzerstörung

Wo die Tongva und Chumash, die ursprünglichen Bewohner des Landes, regelmäßig das Unterholz kontrolliert abbrannten, wuchs stattdessen Spekulation in die Höhe, die sich von regelmäßig auftretenden katastrophalen Feuern nicht abhalten ließ. Auch der Autor Nathanael West setzte seine Los Angeles gewidmete Schauergeschichte „Tag der Heuschrecke“ von 1939 vor den Hintergrund der Feuer, die regelmäßig die Stadt heimsuchten. In dem Roman beschreibt er wenig schmeichelnd archetypische Ange­leños und ihr Streben nach Anerkennung, Karriere und Glück, das von Selbstzerstörung kaum zu unterscheiden ist.

Und vielleicht ist es eine ähnliche Form der selbstzerstörerischen Realitätsverweigerung, die dazu einlädt, Häuser und Wohnungen in einer Region zu bauen, die eine jährliche Feuersaison hat und in der Erdbebendrills zum Schulunterricht gehören. Oder die junge Menschen aus den ganzen USA, wenn nicht sogar der Welt, auf der Suche nach Ruhm in die Stadt lockt und ein Leben ohne soziales Netz, ohne Kranken- oder eben Feuerversicherung als gerechtfertigten Preis für die Chance auf den großen Jackpot erscheinen lässt.

Mieten über 20 Prozent gestiegen

Gleichzeitig werden es eben diese „blue collar“-Angeleños sein, bei denen es unsicher ist, ob sie in ihre Heimatviertel zurückkehren können. Allein seit den Neunzigern haben sich Immobilienpreise in vielen Teilen der Stadt mindestens vervierfacht, schreibt die New York Times. Wer schon lange in seinem Haus oder seiner Wohnung wohnt, könnte sich eine neue Immobilie im gleichen Gebiet nicht mehr leisten.

Trotz Gesetzen gegen Preiswucher sind noch während der Feuer vielerorts Mieten über 20 Prozent gestiegen. Andernorts wird Hausbesitzern, die vor den sprichwörtlichen Trümmern ihrer Existenz stehen, Bargeld für ihre Grundstücke angeboten, natürlich weit unter Marktwert. Innerhalb nur weniger Tage ist dies zu einem derart großen Problem geworden, dass der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom vor wenigen Tagen einen Erlass gegen unaufgeforderte Kaufangebote unter Wert in bestimmten Wohngegenden unterschrieben hat.

„Climate Gentrification“

Naturkatastrophen können zu verschiedenen Gentrifizierungs- und Verdrängungsmechanismen führen: zum einen gibt es das Phänomen der „Climate Gentrification“, bei der Nachbarschaften aufgrund ihres relativen Schutzes vor Konsequenzen des Klimawandels zu neuer Beliebtheit aufsteigen. Zum anderen aber zeigen Untersuchungen, etwa der Entwicklung von New Orleans nach dem Hurricane „Katrina“, dass Wohnviertel mit einem hohen Grad an Zerstörung mit größerer Wahrscheinlichkeit vermeintlich „aufgewertet“ werden. Die ursprüngliche Bewohnerschaft wird dabei oftmals verdrängt. Zuletzt hat sich das nach den Bränden auf der hawaiianischen Insel Maui in 2023 gezeigt: Viele Bewohner der nahezu vollständig zerstörten Stadt Lāhainā leben anderthalb Jahre nach der Katastrophe an anderen Orten. Soziale Netze, Gemeinschaften und Historie, zerrissen und oftmals verloren.

Doch die Tendenz zur Realitätsverweigerung, die Los Angeles auch in dieser Krise an seine Grenze gebracht hat, könnte auch die Chance auf Veränderung sein: Über soziale Medien werden längst nicht mehr nur Spendensammlungen organisiert, sondern auch Townhalls in betroffenen Gegenden der Stadt oder innerhalb bestimmter Communities wie der Kunst- und Kulturszene. Oftmals ganz ohne Beteiligung kommunaler Verwaltung.

Hybris und Risikobereitschaft

Dabei werden etwa gemeinsame Positionen formuliert oder Kritik an Politikerinnen wie der Bürgermeisterin Karen Bass oder dem ehemaligen Bürgermeisterkandidaten und umstrittenen Immobilienentwickler Rick Caruso geübt, der in der Krise durch Falschaussagen zur Wasserversorgung auf sich aufmerksam machte. Es ist eine einzigartige Mischung aus Hybris und Risikobereitschaft, die dieser Graswurzelorganisation die Hoffnung verleiht, Verdrängungsmechanismen Einhalt gebieten zu können.

Dieses südkalifornische Amal­gam aus Entschlossenheit, Resilienz und Unnachgiebigkeit, die das Leben im paradiesischen Hochrisikogebiet überhaupt ertragen und als erstrebenswert ansehen lässt, könnte also auch die Lösung sein, um der Stadt ein ähnliches Schicksal wie Lāhainā oder New Or­leans zu ersparen.

Werden Graswurzelbewegungen Los Angeles vor den Mechanismen der Verdrängung, die so viele andere Städte und Regionen betroffen haben, schützen können? Realistisch ist das nicht. Aber realistisch war es auch nicht, mitten in einem Feuergebiet und der Kontinentalplattenverwerfung den Sehnsuchtsort der Popkultur zu erschaffen. Los Angeles lebt von dem Bravado jener, die die Realität nicht anerkennen und ihr eigene Weltentwürfe dagegenstellen.

Von den Madlibs und den Musiklehrern, die die nächste Producerlegende ausbilden, von Nannys mit kleinen und großen Ambi­tionen, von seiner Diversität und seiner Resilienz. Das Feuer und seine Nachwirkungen werden LA noch lange beschäftigen. Es wäre nicht nur Südkalifornien, sondern auch allen Regionen, die in Zukunft von solchen Extremwettersituationen betroffen sein könnten, zu wünschen, dass Los Angeles einen Weg findet, aus der Katastrophe einen Weg in eine mehr und nicht weniger gerechte Stadt zu finden.

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