piwik no script img

Nach dem Terroranschlag in AustralienStille Trauer am Bondi Beach

16 Tote, mehr als 40 Verletzte: am Tag nach dem Terroranschlag gegen jüdische Menschen am Bondi Beach in Sydney weiß man mehr über Opfer und Täter.

Trauerende am Bondi Beach, Sydney, Australien Foto: Bondi Reporter/imago

Aus Sydney

Urs Wälterlin

Eine gespenstische Stille herrscht vor dem Bondi Pavillon, einem großen Gebäude direkt am Bondi Beach. Nur die Gebete einiger junger jüdischer Männer unter dem Dach eines kleinen Zeltes durchbrechen die Ruhe auf dem sonst lebhaften Platz. Hunderte Menschen haben sich in stiller Andacht versammelt. Berge von Blumensträußen liegen auf dem Boden, sauber aneinander gereiht. Eine Gruppe Trauernder nähert sich, die Männer mit der Kippa auf dem Kopf. Eine Frau stützt ihre betagte Mutter. Beiden rollen Tränen über das Gesicht, als sie ihre Blumen ablegen.

Die jüdische Gemeinde Australiens steht unter Schock und eine Nation trauert mit. Das Terrorattentat vom Sonntagabend auf eine Gruppe jüdischer Menschen, die in einem Park einen Steinwurf vom Bondi Pavillon den Beginn des Lichterfests Chanukka feierten, habe „das Land für immer verändert“, meint ein Kommentator.

Schnell wurde bekannt, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um einen Vater und seinen Sohn handelt. Die beiden schossen von einer Brücke aus auf die Feiernden. Wer sich nicht durch Flucht den Kugeln entziehen konnte, fiel, wo er stand.

Ein Blutbad, wie es Australien seit dem Amoklauf von Tasmanien 1996 nicht mehr gesehen hatte. Damals hatte ein junger Mann mit einem Schnellfeuergewehr 35 Menschen erschossen. Die Regierung handelte sofort. Sie verbot alle halbautomatischen Waffen, Tötungsmaschinen, deren einzige Aufgabe es ist, so viele Schüsse in so kurzer Zeit abzufeuern, wie technisch möglich. Diesem Entscheid damals sei zu verdanken, so am Montag ein Experte im Fernsehen, dass es in Bondi 16 unschuldige Opfer gegeben habe, und nicht 150.

Dass der Vater in der Lage gewesen war, sechs Gewehre zu kaufen, ganz legal, und die notwendigen Lizenzen dazu erhielt, ist für Premierminister Anthony Albanese trotzdem untragbar. Am Montag kündigte er an, die Waffengesetze noch mehr verschärfen zu wollen, „wenn nötig“.

Das jüngste Opfer war 10 Jahre alt, das älteste 87

Auf dem Rasen neben dem Pavillon stehen Techniker und Journalisten von Fernsehcrews. „Bondi Beach“ ist das globale Nachrichtenthema Nummer eins. Die Reporter berichten in alle Welt – deutsche, russische, chinesische und koreanische Sprachfetzen sind zu hören.

Hinter dem Pavillon ist der Bondi Beach, der Ort, der eigentlich bekannt ist für Lebensfreude, Ausgelassenheit, Sonne und Fröhlichkeit, für schöne Lebensretter mit bronzefarbenen, muskulösen Körpern und Backpackerinnen in knappen Bikinis. Doch heute ist der Strand fast leer. Wie die Strandpromenade. Ein rot-blaues Band aus Plastik warnt: „Police – Keep Out“. Weder Autos noch Busse dürfen fahren, wo sonst „Surfies“ mit ihren Brettern parken, stehen Einsatzwagen der Polizei. Der Ort der Lebensfreude hat an diesem Montag die Atmosphäre einer Leichenhalle.

Der Ort der Lebensfreude hat am Montag die Atmosphäre einer Leichenhalle.

In einem kleinen Zelt bietet ein Rabbi den Passanten geistliche Hilfe an. Nur ein paar Meter entfernt starb am Sonntag der bekannte Rabbiner Eli Schlanger im Kugelhagel. Eine „Stütze der Gemeinde“ sei er gewesen, steht auf einem Plakat, ein Vater von fünf Kindern. Auch das Bild eines kleinen Mädchens flattert im Wind. Matilda hat eine farbige Gesichtsbemalung – ein Delfin. Das Foto muss kurz vor dem Attentat aufgenommen worden sein.

Chanukka sei vor allem ein Fest für Kinder, erklärt eine Frau. „Die freuen sich immer so.“ Matilda war zehn Jahre alt, das älteste Opfer 87 Jahre. Alexander Kleytman hatte den Holocaust überlebt, aber nicht die Kugeln des Hasses in Bondi.

Der Held von Bondi heißt Ahmed al-Ahmed

Hass: Trotz der melancholischen Stimmung ist dieses Gefühl in Bondi nicht weit entfernt. Es steht in den Gesichtern der jungen Männer mit den Kippas, und in dem von Tracy. Die Frau, etwa 60 Jahre alt, ist eine von wenigen, die der Bitte des Journalisten für ein Interview folgt. Die meisten anderen winken ab, wollen nichts mit Medien zu tun haben, die sie „nicht kennen“, wie ein junger Mensch fast aggressiv sagt.

Tracy klagt, dass „die sich einfach nicht anpassen wollen“. Die, das seien Muslime. Sie wollten „nur töten, nur hassen“. Dass auch das Worte des Hasses sind, scheint sie nicht zu merken. Auch Muslime, wie alle Neuankömmlinge, werden Australier, passen sich an – und das mit Stolz. Deshalb ist das Land eines der erfolgreichsten multikulturellen Nationen. „Nein“, sagt Tracy, „man sollte die alle rausschmeißen.“

Aber da ist doch der Held von Bondi, sagt der Reporter. „Wollen Sie den auch rausschmeißen?“ Die Bilder von dem Mann im weißen Hemd, der sich selbstlos auf einen der Attentäter stürzte, ihm die Waffe entriss und dabei verletzt wurde, gingen um die Welt. Minuten später wurde er in den sozialen Medien als Held zelebriert.

Doch dann wurde bekannt, dass der „Held von Bondi“ nicht Jack oder John hieß, sondern Ahmed al-Ahmed, braun ist und Muslim. Schnell wurde es wieder still auf Facebook. „Na ja“, sagt Tracy, etwas nachdenklich, als der Journalist nachhakt. Aber eine Antwort gibt sie nicht.

Anstieg rassistischer Anfeindungen

Hinter dem blauen Absperrband arbeiten die Forensiker weiter am Tatort. Es sei die „größte und komplexeste“ Untersuchung der jüngeren Geschichte, sagt ein Polizeisprecher. Sofort war in den Medien die Frage aufgekommen, ob niemand im gigantischen Sicherheits- und Überwachungsapparat, der Australien jedes Jahr Milliarden Dollar kostet, die Gefahr gesehen habe. Der jüngere der Attentäter soll vor sechs Jahren wegen Verbindungen zum Islamischen Staat überprüft worden sein. Medienberichte, nach denen im Auto der Angreifer IS-Flaggen gefunden wurden, bestätigte die Polizei mit Verweis auf laufende Ermittlungen nicht.

Die Frage der Schuld kochte hoch, noch bevor das Blut der Erschossenen im Gras versickert war.

Tatsächlich hatte der Inlandgeheimdienst Asio erst vor Kurzem gewarnt, eine Terrorgefahr bestehe „mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit“. Doch im Gegensatz zu früheren Jahren ging der Geheimdienst nicht mehr nur von Islamisten als potenziellen Tätern aus, sondern von Neonazis. Die hatten sich in den letzten Monaten prominent in Szene gesetzt. Antisemitismus, Übergriffe gegen Juden, verbale Attacken haben seit Beginn des Gazakrieges dramatisch zugenommen.

Die Frage der Schuld kochte am Sonntagabend hoch, noch bevor das Blut der Erschossenen im Rasen des Parks versickert war. Die Frage für Australien ist jetzt, ob es gelingen wird, die Debatte zu führen, ohne weiter Hass zu schüren.

Die Zeichen stehen nicht gut. Ausgerechnet aus Israel kommt eine Salve von Beschuldigungen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warf Australien vor, zu wenig gegen Antisemitismus getan zu haben. Die konservative Opposition ging mit der derselben Rhetorik gegen Premierminister Anthony Albanese vor. Muslime melden bereits einen erneuten Anstieg rassistisch motivierter Anfeindungen.

Doch es gibt auch positive Zeichen: Der „Held von Bondi“, Ahmed al-Ahmed, braun und Muslim, ist heute eine halbe Million Dollar reicher. So viel haben Australierinnen und Australier an nur einem Tag gespendet, damit er sich gut von seinen Verletzungen erholen könne.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare