Nach dem Rechtsruck in Argentinien: Protest gegen Mileis Kettensäge
Argentiniens Bevölkerung leidet unter den harten Sparmaßnahmen ihres Präsidenten und geht auf die Straße. Für Milei-Faszination hat sie kein Verständnis.
Florencia Wortman glaubt an die Kraft von Protesten. Zumindest wenn es um das öffentliche Bildungssystem geht. Zehntausende ArgentinierInnen gingen für die universidad pública, die kostenlose staatliche Universität, auf die Straße. Lachend erzählt die argentinische Anthropologiedozentin und Erziehungswissenschaftlerin: „Die Regierung bekam dann ein bisschen Angst – und plötzlich gab es Verbesserungen bei der Finanzierung.“
Wortman lehrt an der Universidad Nacional de San Juan (UNSJ) im Westen Argentiniens. Wie viele Institutionen in dem zweitgrößten südamerikanischen Land ist die UNSJ vollständig auf staatliche Mittel angewiesen. Doch genau diese Gelder hat Präsident Javier Milei massiv gekürzt. Anarchokapitalismus nennt er seine Politik.
Die Folgen sind dramatisch für die argentinische Bevölkerung. Milei schaffte die Hälfte der Ministerien ab, 100.000 Menschen verloren ihre Jobs in Bibliotheken, bei der Post und der Ferrocarriles Argentinos, der argentinischen Eisenbahn. Und zwar von heute auf morgen. So ist die Rate der indigencia, der Bedürftigkeit, schon nach einem Jahr mit Milei als Präsident um 7 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass mittlerweile fast ein Fünftel der argentinischen Bevölkerung notleidend ist und sich nicht mehr selbst ernähren kann. Jedoch wurde auch die Unterstützung für soziale Organisationen, die bis dahin viele Suppenküchen in Argentinien betrieben haben, vom amtierenden Präsidenten gekürzt.
„Nicht nur die Armutsrate ist gestiegen. Alles wird immer teurer. Die Löhne werden nicht der Inflation angeglichen. Es wird immer schwieriger, überhaupt bis ans Ende des Monats zu kommen“, sagt Pilar Rüger Alonso, argentinische Studentin, Lehrerin und Filmemacherin. Fehlende Subventionen ließen vor allem die Preise für Strom, Wasser und öffentliche Verkehrsmittel explodieren.
Jüngere ziehen wieder bei den Eltern ein
Dieser Text ist Teil des Projekts taz Panterjugend: 26 junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, Nachwuchs-journalist:innen, -illustrator:innen und -fotograf:innen, kommen im Januar 2025 zu digitalen Seminaren zusammen und im Februar zu einer Projektwoche in die taz nach Berlin. Gemeinsam entwickeln sie zur Bundestagswahl Sonderseiten für die taz – ein Projekt der taz Panter Stiftung.
Weil das Geld knapp ist, ziehen viele junge Menschen wieder bei ihren Eltern ein. Oder ziehen gar nicht erst aus – auch mit Anfang dreißig noch nicht. Probleme haben auch RentnerInnen. Bei vielen reicht die gekürzte Mindestrente kaum noch zum Leben. Vor allem die fehlende Finanzierung von Medikamenten schockiert viele. In Córdoba, Argentiniens zweitgrößter Stadt, übergoss sich ein Rentner im Dezember 2024 aus Protest sogar mit Benzin, um sich anzuzünden.
Pilar Rüger Alonso, argentinische Studentin
Präsident Milei kümmert das offenbar wenig. Während in der Hauptstadt Buenos Aires Tausende RentnerInnen gegen die Kürzungen demonstrierten, veranstaltete er im Präsidentensitz Casa Rosada einen pompösen Grillabend. Eingeladen waren 87 Parlamentsabgeordnete, die ihr Veto gegen ein Gesetz zur Rentenerhöhung eingelegt hatten.
Zehntausende Menschen treibt es nun auf die Straße. Sie protestieren gegen die drastischen Sparmaßnahmen – und wollen vor allem auch das öffentliche Bildungswesen erhalten. „Die universidad pública hat die Kraft, soziale Strukturen aufzubrechen“, sagt Rüger Alonso. „Selbst Menschen, deren Familien seit Generationen in Armut leben, hatten durch die kostenlose Bildung zumindest theoretisch eine Chance auf sozialen Aufstieg.“
Gespaltene Gesellschaft
Mileis radikale Sparpolitik, vor allem der Kahlschlag im öffentlichen Sektor, trifft die Bevölkerung hart und verschärft die soziale Spaltung. „Aber das ist gar nicht neu in Argentinien, diese Polarisierung ist historisch“, sagt Wortman. Auf der einen Seite werden die umfangreichen Kürzungen als notwendiges Zurückstutzen eines wild wuchernden Staates interpretiert. Die andere Seite sieht Mileis Politik als besorgniserregende Zerstörung des Sozialstaats, bei der große Teile der argentinischen Bevölkerung durchs Raster fallen. Die Frage, ob der Staat für Bildung und soziale Absicherung verantwortlich ist, spaltet das Land.
Auch Deutschland wird zunehmend als polarisiertes Land beschrieben. Besonders während des Wahlkampfs sorgen Debatten über Sozialausgaben und Bürokratieabbau für einen hitzigen Schlagabtausch. Einige Politiker fasziniert sogar Mileis Kettensägenmetaphorik – allen voran Ex-Finanzminister Christian Lindner. Dafür haben Wortman und Rüger Alonso keinerlei Verständnis, denn mehr Milei zu wagen sei keine gute Idee. Lindner hat mit dem Kettensägenvorstoß bislang wenig Erfolg: Seine FDP kämpft derzeit um den Wiedereinzug in den Bundestag.
Die Proteste gehen weiter
Der Widerstand in Argentinien ebbt nicht ab. Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, sind erneut landesweite Proteste angekündigt. Hier wird der Kampf für Gleichstellung mit dem Protest gegen den Anarchokapitalisten Milei verbunden werden. So schließen sich an diesem Tag RentnerInnen, Studierende und Beschäftigte des öffentlichen Diensts feministischen AktivistInnen an. Schon im vergangenen Jahr gingen an diesem Datum Zehntausende auf die Straße. Auch diesmal dürften es nicht weniger werden.
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