Nach dem Kohleabbau in Brandenburg: Die Oase in der Wüste
Im brandenburgischen Großräschen ist der Strukturwandel nach der Braunkohle vollbracht. Wesentlichen Anteil daran hatte Rolf Kuhn. Ein Besuch vor Ort.
Mit seiner welligen Mähne und dem beeindruckenden Rauschebart könnte man Rolf Kuhn für einen Karl Marx der Lausitz halten – einen überaus erfolgreichen obendrein. Denn bei Kuhn hat nicht nur eine Idee revolutionäre Kraft entwickelt, sondern auch deren Umsetzung. An der Seepromenade sind die „IBA-Terrassen“ als Landmarke nicht nur eine Erinnerung an die Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land, deren Kraftfeld von 2000 bis 2010 Großräschen gewesen ist.
Auch ein Stadthafen ist inzwischen entstanden und ein neues Wohnviertel am See. War das „real Existierende“ am Sozialismus der Gradmesser für die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ist das real existierende Großräschen ein Beispiel für den gelungenen Strukturwandel in der Lausitz. Unter der Seebrücke, einst nur ein Versprechen, das weit in den ehemaligen Tagebau Meuro hineinragte, plätschert nun der Großräschener See. Eine Oase in der einstigen Wüste.
Als Rolf Kuhn 1998 zum ersten Mal nach Großräschen kam, sah er eine Stadt, in die sich der Tagebau schon hineingefressen hatte. Der Ortsteil Bückgen, heute Großräschen-Süd, war bereits abgebaggert, nur das 1922 errichtete ehemalige Ledigenwohnheim der Ilse Bergbau AG stand noch an der Tagebaukante. Es war ein trauriger Anblick, der sich Kuhn bot: Die Fenster im Parterre waren zugemauert, zahlreiche andere Scheiben zerschlagen. Nur am Giebel prangte noch das Symbol der Bergarbeiterstadt: Hammer und Eisen.
Die große Depression in der Lausitz
„Damals gab es in der Lausitz eine große Depression“, erinnert sich Kuhn. „Viele Familien haben für ihre Kinder und Enkel keine Perspektive gesehen. Deshalb sind auch viele junge Leute weggegangen.“ Auch aus Großräschen. 1993 hatte die Stadt zwischen Cottbus und Senftenberg mit 12.832 Einwohnern ihren Höchststand erreicht. Seit dem Ende des Tagebaus Ende der 1990er Jahre ging es bergab. 2020 wurden noch 8.455 Einwohnerinnen und Einwohner gezählt. Großräschen wurde zur sterbenden Stadt.
Dass Großräschen eine Zukunft hatte, glaubten nur wenige. Rolf Kuhn war einer von ihnen. Er hatte seinen Posten als Direktor des Bauhauses in Dessau aufgegeben, um im Alter von 52 Jahren in Großräschen noch einmal etwas Neues zu wagen. Als Geschäftsführer der IBA Fürst-Pückler-Land wollte er zeigen, wie die Lausitz ohne Kohle aussehen kann – ohne dass sie ihre Industriegeschichte verleugnet.
Als Verrückten haben sie Kuhn damals bezeichnet, als er vorgeschlagen hat, die „F60“ als ehemals größte Förderbrücke der Welt zu einer touristischen Attraktion zu machen. Heute pilgern die Touristen scharenweise zum „liegenden Eiffelturm der Lausitz“. Vielleicht ist es dieses Überraschungsmoment, das Rolf Kuhn mit der IBA als damals größte Landschaftsbaustelle Europas gelungen ist.
Man kommt in die Region und staunt. Kuhn selbst sagt es so: „Man sieht etwas, was man nicht erwartet hat. Etwas, was die Menschen hier auch nicht erwartet haben.“ Bei einem Besuch habe ihm Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) einmal gesagt, wie gut, dass er sich durchgesetzt habe. „So sieht man das im Nachhinein.“
Das mit dem Durchsetzen hat Kuhn in einem Land gelernt, in dem Mitlaufen oft einfacher war, als eigene Wege zu gehen. Nach dem Studium des Städtebaus und der Gebietsplanung in Weimar baute Kuhn dort den Lehrstuhl für Stadtsoziologie auf. „Wir haben jedes Jahr eine andere Stadt analysiert. Und zwar sowohl die Plattenbaugebiete als auch die verfallenden Altstädte“, erinnert er sich. „Es brauchte schon eine gewisse Schlitzohrigkeit, dass man solche Befragungen durchführen durfte.“
Erst recht, wenn die ersten empirischen Untersuchungen, die in der DDR zum Städtebau durchgeführt wurden, unerwünschte Ergebnisse mit sich brachten. „Wir haben herausgefunden, dass Plattenbaugebiete nur so lange attraktiv waren, als sie die Minderheit in einer Stadt waren“, sagt er. „In dem Moment, als Gründerzeitgebiete wie zum Beispiel der Sonnenberg in Karl-Marx-Stadt abgerissen werden sollten, schlug das um. Man wollte nicht, dass die gesamte Stadt zu einem Neubaugebiet wird.“
Mit Erkenntnissen wie diesen wurde Kuhn Direktor des Bauhauses in Dessau, rettete die Werksiedlung in Zschornewitz, wollte den Städtebau der DDR „revolutionieren“, wie er sagt, und wurde zur Figur der friedlichen Revolution, weil er ein Theaterstück gezeigt hatte, das die Zustände in der DDR und im sozialistischen Lager zeigte und kritisierte. „Damals lief auch schon ein Verfahren, um mich abzusetzen. Aber das kam zu spät.“
Sonnenuntergang vor der Grube
Nach Großräschen kam Kuhn nicht zu spät, sondern gerade noch rechtzeitig. Wer heute am Bahnhof aussteigt und die zwei Kilometer lange Strecke zum See zurücklegt, erlebt zwei sehr verschiedene Stadtteile: das historische Stadtzentrum am Bahnhof und die Seestadt in Großräschen-Süd. Dorthin soll sich mit dem IBA-Campus künftig das Leben verlagern. In einem Besucherstollen etwa soll unter der Victoriahöhe, einer ehemaligen Abraumhalde, die Bergbaugeschichte von Großräschen erlebbar werden.
Doch schon 2004, als die IBA-Terrassen, drei durch eine Promenade an der ehemaligen Tagebaukante verbundene Gebäudewürfel, entstanden waren, war aus der ehemaligen Bergarbeiterstadt Großräschen eine Touristenstadt geworden. Mit Blick auf die Canyons des Tagebaus und ihre bizarren Geröllformationen ließ sich im Café bei einem Glas Wein der Sonnenuntergang genießen. Nur selten war bis dahin in Brandenburg eine ehemalige Industrielandschaft derart touristisch inszeniert worden.
Doch um Inszenierung war es Rolf Kuhn nur am Rande gegangen. Immer wieder wurde ihm vorgeschlagen, im Süden Brandenburgs einen Disneypark zu bauen. „Das habe ich immer abgelehnt“, sagt er. Kuhn wollte zeigen, dass es eine Zukunft jenseits der Kohle gab, aber keine, die diese Epoche einfach unter den Teppich kehrte. Denn ausgekohlte Braunkohlereviere wie das des Tagebaus Meuro in Großräschen wurden bis dahin nach dem immer gleichen Muster saniert. Entweder es entstand ein See oder alles wurde zugeschüttet, darauf kamen dann entweder Solarparks oder Wald. Mit seiner IBA und ihren 30 Einzelprojekten wollte Kuhn zeigen, dass es auch anders geht.
Kuhn wollte auch die industriellen Hinterlassenschaften wie die F60, das Kraftwerk Plessa oder die Biotürme in Lauchhammer retten. Im Tagebau Welzow sollte eine Wüste entstehen, und die Gartenstadt Marga, eine Bergarbeitersiedlung der Ilse Bergbau AG zwischen Großräschen und Senftenberg, sollte zu neuem Leben erweckt werden. Geschichte und Zukunft sollten beide sichtbar werden in der Lausitz, aus der Kuhn auch über den Tellerrand schaute: „Ohne das Welterbe Zeche Zollverein wäre Essen nicht Kulturhauptstadt Europas geworden.“
Wenn Rolf Kuhn heute durch Großräschen geht, spürt man, dass da einer stolz ist auf das, was er hinterlassen hat. Aus dem verfallenen Ledigenwohnheim hat der damalige Betreiber des Cafés auf den IBA-Terrassen ein Viersternehotel gemacht. Das ehemalige Beamtenwohnheim der Ilse Bergbau AG, ein Klinkerbau aus den 1920er Jahren, in dem bis 2010 die Geschäftsstelle der IBA war, beherbergt heute das IBA-Studierhaus. Studierende aus allen Ländern kommen inzwischen nach Großräschen und wollen wissen, wie das mit dem Strukturwandel funktioniert.
Steil bergauf, wenn auch mit Hindernissen
Kuhn selbst ist nach seiner Verabschiedung in den Ruhestand in Großräschen geblieben. Mit drei weiteren Parteien wohnt er in der „Alten Apotheke“, die er liebevoll sanieren ließ. Großräschen ist auf einem guten Weg, weiß er. Sogar der Bevölkerungsrückgang sei gestoppt. „Es ist spannend, wie es hier weitergeht.“
Ganz zufrieden ist Rolf Kuhn dennoch nicht. Und das hat mit dem Strukturwandel zu tun, der nach dem Kohlekompromiss zwischen Bund und Ländern den Kohleausstieg in der Lausitz begleiten soll. Allein Brandenburg stehen aus den Strukturstärkungsmitteln des Bunds 10 Milliarden Euro zur Verfügung. Mehr als die Hälfte davon vergibt der Bund selbst, darunter etwa für die 1 Milliarde teure Erweiterung des Bahnwerks in Cottbus oder für den ebenso teuren Aufbau einer Hochschulmedizin am Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus.
Die andere Hälfte wird über die „Wirtschaftsregion Lausitz“ vergeben, ein Zusammenschluss von Kommunen und Landkreisen, der über die von den Kommunen eingereichten Projekte berät und die Anträge schließlich zur Entscheidung an eine interministerielle Arbeitsgruppe der Landesregierung weiterreicht. Auch das Besucherzentrum in Großräschen, das bald aus der Baugrube am Ende der Seestraße wachsen soll, wird so finanziert.
Anders als bei Kuhns IBA, wo nicht die Politiker oder Landräte über die Auswahl der Projekte entschieden haben, sondern ein international besetzter Fachbeirat, habe nun die Landesregierung das letzte Wort, sagt Kuhn. „Da gibt es auch Projekte, die in den Schubladen lagen und nun wieder herausgezogen werden, weil Geld da ist. Das sind alles keine Dinge, die falsch sind, aber sie sind auch nicht außergewöhnlich.“
Die Zeit des Experimentierens ist vorbei in der Lausitz, so sieht es Kuhn, dessen IBA im Jahr knapp 1,5 Millionen Euro zur Verfügung hatte. Aber gerade die Experimente hätten damals große Wirkung gezeigt. „Ohne den Erfolg der IBA-Terrassen hätte der Cafébetreiber nicht den Mut gehabt, das ruinöse Ledigenwohnheim zu sanieren“, ist er überzeugt.
Ein neues Image für die Lausitz
Ob der Strukturwandel von heute ähnliche Bilder des Aufbruchs und der Überraschungen in der Lausitz hervorbringen kann wie die IBA in der Pionierzeit des Wandels? Damals sah man Besucher mit Schirmen gegen die Sonne geschützt auf „Canyontours“ durch aufgegebene Abraumhalden wandern. Viele dieser Bilder haben, wie etwa die „schwimmenden Häuser“, die Erwartungen nicht erfüllen können. Andere wie der „rostige Nagel“, ein Aussichtsturm mit Blick auf die neue Seenlandschaft, sind Besuchermagnete. Und manche, wie der Cottbuser Ostsee auf dem ehemaligen Tagebau Cottbus-Nord, nehmen erst heute Gestalt an. Eine „Zeitmaschine“ haben Kuhn und sein Team die IBA genannt – vor allem aber war sie ein Labor, in dem in Echtzeit an den Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft gearbeitet wurde.
Vielleicht ist das das größte Verdienst von Rolf Kuhn und seinem Team: Der Lausitz ein neues Image verpasst zu haben, ein anderes als das, das sie seit über 200 Jahren mit sich herumschleppt.
Noch 1789, dem Jahr, in dem in Frankreich die Revolution begann, hatte Christian Gottlieb Schmidt, ein Pastor aus der Nähe von Dresden, in seinen „Briefen über die Niederlausitz“ die Region gleichgesetzt mit „tiefen Sandmeeren“ und „unfruchtbaren Steppen“. Da passte es ganz gut ins Bild, dass sich das erste Brandenburger Wolfsrudel 2009 in Welzow ansiedelte, auf dem Gelände eines bis heute existierenden Tagebaus. Nicht nur unzugänglich und fremd war die Lausitz, sondern auch gefährlich.
Für die Revolution in der Lausitz wird entscheidend sein, ob Projekte wie die Cottbuser Hochschulmedizin oder ein nach dem Vorbild von Berlin-Adlershof geplanter Science-Park das von der IBA geprägte Bild der Lausitz als Labor der Zukunft wieder aufnehmen. Oder ob nun, ähnlich wie bei der Sanierung des Bergbaus, nach Schema F verfahren wird: Die Leerstellen, die die Tagebaue hinterlassen, werden einfach mit Geld verfüllt.
60.000 Kumpel haben zwischen 1989 und 1998, dem Jahr, in dem Rolf Kuhn nach Großräschen kam, ihre Arbeit in den Brandenburger Braunkohlerevieren verloren. Die 8.000, die heute noch von der Kohle leben, müssen ihren Platz bis zum Kohleausstieg voraussichtlich 2030 räumen.
Doch an Arbeit, das hat Kuhn in den vergangenen Jahren beobachten können, fehlt es der Lausitz schon heute nicht. „Wenn hier ein Werk schließt, bekommen die Mitarbeiter drei oder vier neue Angebote“, hat er festgestellt. Genauso wichtig wie die Arbeit, findet Kuhn, ist der kreative Geist, das Experiment, die Bewahrung des kulturellen Erbes, das die Besonderheit der Lausitz ausmacht. Denn mit den zahlreichen neuen Forschungsinstituten kommen auch attraktive Jobs in die Lausitz. „Da konkurriert die Lausitz mit anderen Regionen um diese Fachkräfte“, sagt Kuhn. „Deshalb ist es so wichtig, dass man auch für diese Menschen interessant ist.“
Mindestens so wichtig wie das Geld ist also die Stimmung. Wird aus Cottbus wirklich die Gewinnerin des Strukturwandels, oder bleiben die gutdotierten Stellen unbesetzt, weil viele lieber einen Bogen um die Stadt mit ihrer rechten Szene machen? Ist das Seenland nur ein Ausflugsziel für Gäste aus Berlin und Dresden, oder können es sich auch die Einheimischen leisten?
Bis Fragen wie diese beantwortet sind, bleibt die Lausitz trotz der Milliarden aus den Strukturmitteln eine Region auf der Kippe. Und auch Oasen wie Großräschen sind nicht davor gefeit, wieder wüst zu fallen. „Die Marina am neuen Seeufer hat inzwischen wieder geschlossen“, sagt Rolf Kuhn zum Ende des Besuchs. „Nachdem die Flutung des Tagebaus 2018 beendet war, haben die heißen Sommer der vergangenen Jahre den Wasserstand sinken lassen.“
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