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Nach dem Holo­caust-GedenktagSpätes zu Wort kommen, unverzichtbares Analysieren

Warum konnte Klaus Kozminski erst mit 85 Jahre seine Geschichte erzählen? Zum Verständnis hilft ein Blick auf die deutsche Erinnerungskultur.

Auschwitz wurde vor 80 Jahren befreit, ein breiteres Forschungsinteresse am Holocaust entstand jedoch erst nach 1970 Foto: Grzegorz Celejewski/Agencja Wyborcza/reuters

D a ist diese Geschichte, an die ich in dieser Woche wieder denken muss: 1937 wird in Berlin der Jude Klaus Kozminski geboren. Noch ein Kind, flieht seine Familie vor den Nationalsozialisten nach Belgien. Als Kozminski drei Jahre alt ist, wird er in einem Kloster versteckt, in der Hoffnung, ihn zu retten.

2022 lernte ich Klaus Kozminski kennen. In der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt führte ich Interviews für ein Kunstprojekt, das die Erinnerungen jüdischer Zugewanderter aus der ehemaligen Sowjetunion einfangen wollte. Kozminski passte nicht ins Profil, kam aber trotzdem. Er bestand darauf, seine Geschichte zu erzählen. Er wollte gehört werden – und wir hörten zu.

Im Kloster hatten die Nonnen Koz­minski grausam behandelt. Er erzählte mir von Schlägen, Isolation, einer erlebten Kälte. „Ich war so alleine, die Traurigkeit ließ mich nicht los“, sagte er mit zitternden Händen. Die Nonnen hatten ihn spüren gelassen, dass er anders war. Viele seiner Spielkameraden, ebenfalls jüdische Kinder, wurden entdeckt und in Konzentrationslager deportiert. Einen dieser Transporte, dem er nur knapp entging, beobachtete er aus der Ferne. Inzwischen träume er von diesen Kindern, die er nie wieder sah, sagte Kozminski weinend.

Warum Klaus Kozminski, bei unserer Begegnung 85 Jahre alt, einen Ort suchte, seine Geschichte zu teilen, vielleicht zum letzten Mal vor seinem Tod, wie er anmerkte, wird verständlicher, blickt man auf die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur.

Der Kern der Vergangenheit

Jahrzehnte war diese von Verdrängung, von Abwehr geprägt. Die Schoah spielte nach 1945 lange keine Rolle in Deutschland. Es waren vor allem jüdische Forscher, die noch während des Kriegs das massenhafte Morden dokumentierten, Archive gründeten. Mit der Befreiung von Auschwitz war zwar der Holocaust beendet, ein breites Forschungsinteresse entstand jedoch erst in den 1970er und 1980er Jahren.

Jahrzehnte wurden die Erfahrungen von Schoah-Überlebenden ignoriert, repräsentierten sie doch den Kern der Vergangenheit, den die Deutschen verdrängten. Heute ist das anders. Zum 27. Januar, dem inter­na­tio­na­len Holo­caustgedenktag, herrscht jährlich ein Erinnerungsmarathon. Verstehen Sie mich nicht falsch, Gedenktage sind wichtig, aber sie müssen mit Inhalt gefüllt werden – auch fernab von Zeremonien. Es heißt oft, aus den Verbrechen von damals muss gelernt werden. Oder verkürzt: Nie wieder. Haben wir etwas gelernt?

1998 stellte der kürzlich verstorbene Yehuda Bauer, lange Direktor des internationalen Forschungsinstitutes in Jad Vaschem, in seiner Rede zum 27. Januar im Deutschen Bundestag die Frage, ob die Singularität der Schoah wirklich verstanden worden sei. Enttäuschend, dass diese Frage 27 Jahre später noch aktuell ist. Seit einigen Jahren stellen die Postkolonialen die Beispiellosigkeit der Schoah infrage und inszenieren das Verbrechen an 6 Millionen Juden als erinnerungspolitischen Gegenspieler zu den kolonialen Verbrechen der Deutschen. Extreme Rechte wollen gar kein Gedenken, schwadronieren von einem vermeintlichen „Schuldkult“.

Gerade erst forderte Elon Musk beim Wahlkampfauftakt der AfD einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit. Ein Narrativ, das ebenfalls aus der extremen Rechten bekannt ist. Ich dachte aber auch an die linken Studenten, die nur zwei Wochen nach dem 7. Oktober 2023 vor dem Auswärtigen Amt in Berlin riefen, Palästina müsse „von deutscher Schuld befreit“ werden. Es vermischt sich viel in diesen Tagen: Die Schoah war präzedenzlos, aber die Erinnerung daran wird aus verschiedenen politischen Lagern angegriffen, für eigene Zwecke instrumentalisiert.Erinnern und Empathie sind wichtig, aber sie ersetzen niemals notwendige Analyse. Von Letzterem wünsche ich mir für die Zukunft mehr.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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2 Kommentare

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  • Zu den Merkwürdigkeiten des offiziellen und öffentlichen Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gehören ja nicht nur das verspätete Gedenken, dass man sich immer noch durchringen muss, an alle Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern und dass man meint, man bräuchte Überlebende als Zeugen dafür. Das Merkwürdige ist auch, dass man die Verbrechen immer noch auf Nationalsozialisten und nicht vorwiegend deutsche Menschen, wie du und ich schiebt. Das Merkwürdigste ist, dass die Erinnerungskultur erst mit den NS-Verbrechen einsetzt. Ist die Erkenntnis, dass die NS-Verbrechen mit der Sicherheit und dem Wohlstand Deutschlands begründet wurden, zu verstörend? Ich denke ja, denn auch nach 1949 und auch heute stellen sich alle maßgeblichen politischen Kräfte und Mehrheiten ununterbrochen hinter die selben Ziele: Damit wir In Deutschland weiterhin in Sicherheit und Wohlstand leben können!

  • "Seit einigen Jahren stellen die Postkolonialen die Beispiellosigkeit der Schoah infrage und inszenieren das Verbrechen an 6 Millionen Juden als erinnerungspolitischen Gegenspieler zu den kolonialen Verbrechen der Deutschen. "

    Mein Vorschlag wäre an diesem Punkt über die eigenen Reflexe nachzudenken.



    Womöglich und ja, befinden sich "die Postkolonialen" selbst und sicher auch zu sehr im Wettbewerbs- Challenge- Konkurrenzmodus, wie uns der "Markt", der Kapitalismus, den Motor allen Lebens und Handelns vorschreibt.

    Die Vorstellung "die Postkolonialen" INSZENIERTEN den Kolonialismus gegen die Shoah, ist selbst schon der Raum, in dem auch die Shoah als Inszenierung behauptet wird.

    Hinzu kommt eine Betonung auf "Beispiellosigkeit", die ein fragwürdiges Bestehen fragwürdiger Kontinuität transportiert: Man setze nicht nur ein beispielloses Weltverbrechen ins Werk. Nun lässt man sich bei Copyright und Kampf gegen den Antisemitismus gerade mit dieser Begründung die Weltspitze und den beispiellosen Weltmassstab im Konkurrenzkampf der Ungeheuerlichkeiten nicht nehmen.

    Die allesamt singulär waren, aber aus nicht unähnlichen Haltungen und Prozessen eine Kontinuität.