Nach dem Erdbeben in der Türkei: Tagelang alleingelassen
Das Erdbeben bringt den türkischen Präsidenten Erdoğan zunehmend in Bedrängnis. Auch innerhalb seiner Regierung wird gestritten.
Welche Kraft die Erdbeben hatten, zeigen jetzt auch Satellitenbilder aus dem All: Nach einer Auswertung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt hat sich die türkische Landoberfläche um bis zu sechs Meter verschoben. Die Türkei hat sich geografisch dem Westen genähert. Welche Langzeitfolgen das für Klima und Natur haben wird, ist noch nicht absehbar. In der Küstenstadt İskenderun sollen Absenkungen der Landmasse aber schon Tage nach den Beben zu Überschwemmungen geführt haben. Viele Hügel in der Gegend sollen zudem einem ernsthaften Erdrutschrisiko ausgesetzt sein.
Zehntausende Menschen aus den betroffenen Gebieten haben die Erdbebenregion mittlerweile verlassen. Viele sagen, dass sie nie wieder zurückwollen. Manche aus Angst vor weiteren Katastrophen, andere aus Wut auf die Behörden: „Wir wurden tagelang alleingelassen!“, schimpft ein Mann aus der Stadt Antakya in der südwestlichen Provinz Hatay. Er steht vor einem Trümmerhaufen, der bis vor wenigen Tagen noch sein Zuhause war. Unter den Massen aus Beton und Ziegelsteinen sollen sich noch Verwandte befinden. „Hatay hat uns im Stich gelassen, also lassen wir jetzt Hatay im Stich.“
Manche Bewohner fürchten, dass die Gegend bald vor allem von syrischen Migranten bevölkert wird. Teile ihres Landes an ausländische Bevölkerungsgruppen zu verlieren ist eine historisch gewachsene Grundangst der sonst gastfreundlichen Türken.
Aus Istanbul sind bereits Hooligans von Fußballvereinen ins Erdbebengebiet gefahren: „Wir werden unsere Flagge hissen und den Ort retten“, verspricht ein junger Anhänger der Gruppe Çarşı dem Chef der rechtsextremen Zafer-Partei in einem Videoclip, der durch die sozialen Medien geht. Hooligans stehen in der Türkei normalerweise dem linken bis linksextremen Spektrum nahe. Die Angst um ihr Land führt offenbar zum zumindest kurzfristig zum Schulterschluss mit Rechtsnationalisten.
Wirtschaftliche Katastrophe
Neben den Folgen für Natur und Demografie werden die Ausmaße der Beben die Türkei auch wirtschaftlich stark belasten. Das Land steckt ohnehin seit Monaten in einer tiefen Krise. Viele Menschen haben kaum noch Geld, um sich eine ausgewogene Ernährung leisten zu können. Nach ersten Prognosen wird der Wiederaufbau der betroffenen Regionen mehr kosten, als das Land hat.
Allein für die Provinz Kahramanmaraş wurden bisher mehr als umgerechnet 84 Milliarden US-Dollar berechnet. All das kann die Wirtschaftskrise im Land mittelfristig enorm verschlechtern und damit die Wut auf die Regierung antreiben.
In Ankara tobt dagegen längst ein politisches Beben. Hinter vorgehaltenen Händen ist von einer massiven Vertrauenskrise die Rede – auch innerhalb der Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Der stand auch vor dem Beben massiv unter Druck und hatte angekündigt, dass die Wahlen im Land bereits im Mai statt wie offiziell vorgesehen im Juni stattfinden sollen.
Verfassungswidrig, die Wahlen zu verschieben
Sein Parteikollege und ehemaliger Sprecher des türkischen Parlaments, Bülent Arınç, verkündete nun eine Kehrtwende: „Weder im Mai noch im Juni kann es Wahlen geben.“ Er schlug eine Zusammenlegung mit den Kommunalwahlen im März nächsten Jahres vor. Die Opposition, Juristen und Intellektuelle schlagen seither Alarm. Der Tenor: Es sei verfassungswidrig, die Wahlen wegen des Erdbebens zu verschieben. Tatsächlich erlaubt die Verfassung einen späteren Termin nur im Kriegsfall. Bisher ist die Türkei aber nicht im Krieg. Arınç ging auf die Kritik bereits ein: „Die Verfassung ist kein heiliger Text“, schrieb er in einem Statement.
Würden die Wahlen nicht verschoben, dürfte die aktuelle Regierung kaum noch eine Chance haben. Die meisten der vom Erdbeben betroffenen Regionen waren bisher zwar Hochburgen von Erdoğans Partei, der islamisch-konservativen AKP. Doch die Stimmung ist bei vielen Menschen gekippt. Sie machen den Präsidenten verantwortlich, nicht in Erdbebenvorsorge investiert und die wichtige Hilfe des Militärs oder der Bergleute zu spät genehmigt zu haben.
Die Nächte im türkischen Südosten sind bitterkalt. Die meisten Menschen dort haben alles verloren. In ihre Verzweiflung mischen sich Wut und Angst: vor weiteren Beben, sozialen Unruhen und der Zukunft. Vereinzelt fürchten sie sogar, dass ihr Land bald wirklich in einen Krieg zieht. „Es gibt ein Sprichwort“, sagt der Mann am Lagerfeuer: „In der Türkei ist zu jedem Zeitpunkt alles möglich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs