Nach Zug-Tragödie mit 57 Toten: Griechenland droht politisches Patt

Das Zugunglück setzt die Regierung von Mitsotakis vor der Parlamentswahl unter Druck. Oppositionschef und Ex-Premier Tsipras profitiert nicht davon.

Demonstration in Athen nach dem Zugunglück im Tempital

Tausende demonstrierten in den letzten Wochen vor dem griechischen Parlament nach dem schweren Zugunglück im Tempital in der Nacht zum 1. März Foto: Yorgos Karahalis/AP

ATHEN taz | In seiner zur Neige gehenden Amtszeit hat sich Griechenlands konservativer Premierminister Kyriakos Mitsotakis, 55, nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im Gegenteil: ein hierzulande desaströses Coronapandemie-Management, explodierende Preise, Hellas' Absturz auf Platz 108 in der Weltrangliste der Pressefreiheit, ein gewaltiger Athener Abhörskandal und nun ein Frontalzusammenstoß zweier Züge im zentralgriechischen Tempital mit 57 Toten: Eigentlich müsste der Athener Oppositionschef und Ex-Premier Alexis Tsipras (48) vom „Bündnis der Radikalen Linken“ (Syriza) allerbeste Chancen auf einen neuerlichen Wahltriumph zu Füßen der Akropolis haben.

Mitnichten. Insgesamt fünf jüngsten Umfragen von führenden Athener Meinungsforschungsinstituten zufolge, die allesamt nach der Zugtragödie im Tempi-Tal durchgeführt worden sind, vereint Syriza in der Sonntagsfrage lediglich 20,5 bis 26 Prozent der Stimmen auf sich. Damit liegt Syriza 2,5 bis 5,8 Prozentpunkte hinter der weiter führenden Nea Dimokratia (ND) unter Premier Mitsotakis.

Tsipras und Co. liegen damit unter ihren Ergebnissen der letzten drei Parlamentswahlen in Griechenland. Bei dem ersten Wahlsieg im Januar 2015 kam Syriza auf 36,34 Prozent. Bei den Urnengängen im September 2015 (Wiederwahl) holte Syriza 35,46 Prozent, im Juli 2019 (Abwahl) immerhin noch 31,53 Prozent der Stimmen.

Seit Anfang 2016 führt Mitsotakis die ND. Seither liegt die ND unter seiner Ägide in mittlerweile kumuliert Hunderten Umfragen zahlreicher Meinungsforschungsinstitute unangefochten vor dem Verfolger Syriza. Weshalb ist das so? Wieso kann Tsipras und seine Syriza nicht wieder die Mehrheit der Griechinnen und Griechen für sich gewinnen?

Die drei „M“

Die Gründe dafür sind die drei „M“. Alle stammen aus der Amtszeit der Regierungen Tsipras von Anfang 2015 bis Mitte 2019. Das erste „M“ steht für die Orte Mandra und Mati. Mandra, eine Industriestadt im Westen vom Großraum Athen, wurde von einer verheerenden Flutkatastrophe mit zwei Dutzend Toten heimgesucht. Mati, ein beliebter Ferienort im Osten Attikas, legte eine Feuerwalze in Schutt und Asche. 103 Menschen starben auf qualvolle Weise. Auch dies ein unglaubliches Staatsversagen – ein tiefer Schock für die eigentlich chronisch leidgeprüften Griechen. Er sitzt noch immer tief.

Das zweite „M“ steht für Mittelschicht. Um wie von Griechenlands öffentlichen Kreditgebern EU, EZB und IWF gefordert ein Haushaltsplus zu erreichen, schröpfte Tsipras ausgerechnet die Mittelschicht oder das, was nach einem rigorosen Sparkurs der Vorgängerregierungen im Zuge der Schuldenkrise in Athen noch davon verblieben war, in einem nie dagewesenem Ausmaß, anstatt die Reichen und Superreichen in Griechenland endlich zur Kasse zu bitten. Da die Reichen und Superreichen auch zu Füßen der Akropolis nur wenige sind, die Wähler aus der verarmten Mittelschicht dafür umso mehr, hat dies für Tsipras bis heute fatale politische Folgen.

Das dritte „M“ steht schließlich für die Makedonien-Frage. Die Regierung Tsipras löste zwar den jahrzehntelangen Namensstreit mit dem nördlichen Nachbarland, das heute Nordmazedonien heißt. Das von der Regierung Tsipras mit der Regierung in Skopje geschlossene „Prespa-Abkommen“, benannt nach dem See, der zwischen beiden Ländern liegt, stieß und stößt in Griechenland auf eine breite Ablehnung in der Bevölkerung. Trotz Massenprotesten auf der Straße und klarer Umfrageergebnisse gegen das Abkommen peitschte der linke Tsipras das heikle Abkommen vor allem auf Geheiß der USA ausgerechnet unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump durch das Athener Parlament.

Fest steht: Alle drei „M“ haben sich mit Blick auf Tsipras und sein politisches Handeln als Regierungschef tief in das kollektive Gedächtnis der Griechen eingegraben. Tsipras ist für viele Griechen bis heute schlicht unwählbar geworden – der nationalen Tragödie in Tempi zum Trotz. Stichwort: toxischer Tsipras.

Tsipras will mit Pasok koalieren

Dennoch fordert Syriza-Chef Tsipras seit Dezember 2021 unbeirrt vorgezogene Neuwahlen in Griechenland. Ohne Erfolg. Premier Mitsotakis lässt sich nun hingegen – nicht zuletzt nach dem Massentod in Tempi – viel Zeit mit dem Urnengang. Laut griechischem Gesetz hat der Premier das alleinige Recht, den genauen Wahltermin zu bestimmen. Die Parlamentswahlen haben turnusgemäß spätestens im Juli dieses Jahres stattzufinden.

Auch Mitsotakis' erklärtes Ziel, weiter alleine in Athen zu regieren, ist nach der Tragödie in Tempi in weite Ferne gerückt

Trotz der ernüchternden Umfrageergebnisse hofft Tsipras darauf, die Regierung Mitsotakis nach den nächsten Wahlen doch ablösen zu können. Er setzt darauf, dass beim kommenden Urnengang in Athen erstmals ein Verhältniswahlrecht nach deutschem Vorbild gilt. Tsipras' Ziel ist es, eine „fortschrittliche Koalitionsregierung“ zu schmieden, um so die Regierung Mitsotakis zu stürzen, wie er immer wieder betont. Sein Lieblingspartner: die Pasok-Sozialisten.

Der Haken daran: Die ehemals omnipotente Pasok kommt laut Umfragen auf rund 10 Prozent der Stimmen. Für eine Regierungskoalition mit Syriza würde das aller Voraussicht nach nicht reichen, sollten Tsipras und Co. in der Wählergunst nicht noch mächtig zulegen. Und die aktuell drei übrigen Oppositionsparteien? Die nationalkonservative „Griechische Lösung“, die linke „Mera25“-Partei unter Ex-Finanzminister Janis Varoufakis sowie die Kommunistische Partei (KKE) – fallen aus unterschiedlichen Gründen als potenzielle Regierungspartner für Tsipras' Syriza aus. Doch auch Mitsotakis' erklärtes Ziel, weiter alleine in Athen zu regieren, ist nach der Tragödie in Tempi in weite Ferne gerückt. In Griechenland droht nun ein politisches Patt.

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