Nach Virginie Despentes' Romantrilogie: Zerschellte Träume
Stefan Pucher hat „Das Leben des Vernon Subutex“ für die Münchner Kammerspiele inszeniert. Es fehlt alles, was das Epos herausragen lässt.
Das ist die erste Szene mit Appeal in Stefan Puchers Inszenierung „Das Leben des Vernon Subutex“ an den Münchner Kammerspielen. Bis dahin hat der Abend die Figuren durchgehechelt, die er sich aus dem imposanten Arsenal von Virginie Despentes’ gleichnamiger Romantrilogie herausgepickt hat. Ein Schauspieler nach dem anderen springt dazu in eine Arena, deren Sitzreihen wie aufgeklappte Vinylrillen wirken.
Darunter sind komische Kabinettstückchen, etwa eine Energieexplosion von Annette Paulmann als Obdachlose, die weiß, wie die Welt zu einem besseren Ort würde, von Thomas Hauser als geschmeidige Ex-Pornoqueen und von einer rätselhaft strahlenden Maja Beckmann, deren Körper wuchs, als ihre Illusionen schrumpften. Dazu ploppen hinter ihnen in roten Blockbuchstaben Namen auf: Olga, Pamela, Emilie.
Ihre Steckbriefe hat Pucher an den Anfang gestellt, pointiert, aber ohne Tiefe. Nach der Pause hat er Texte aus allen drei Bänden zu weltanschaulichen Themenblöcken gebündelt. Was fehlt, ist dagegen fast alles, was dem Epos den Ruf eingebracht hat, das Porträt der Jetztzeit zu sein: die Verlorenheit jedes Einzelnen, die kollektive Angst einer von Anschlägen traumatisierten und zerbrechenden Gesellschaft und die magische Versprechung der Musik.
1.200 Buchseiten in 220 Minuten
Despentes porträtiert das Frankreich der Gegenwart vom Niedergang der Plattenindustrie bis nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und das Bataclan. Ihr Personal sind die heute um die Fünfzigjährigen, deren alte Träume an den Realitäten zerschellen, die sich mit Sex und/oder Drogen betäuben oder im Bürgerlichen heimatlos geblieben sind. Im Zentrum dieses „Haufens von Verstrahlten“: Vernon Subutex, der vom Ex-Plattenverkäufer in Paris zum Ex-Obdachlosen und zum Ex-Guru wird, ohne für all das viel zu tun.
Er lässt geschehen, dass eine denkbar diverse Gruppe ihn für den Kitt hält, der sie zusammenkleben kann. Er legt Platten auf, und in ihren „convergences“ – quasi Raves ohne Internet und Drogen – sehen selbst harte Skeptiker farbige Lichtwellen zwischen den Tänzern wogen. Davon erzählen ansatzweise Schwarz-Weiß-Videos von Meika Dresenkamp, die winkende Hände oder Pilger in seltsam ortlosen Landschaften zeigen. Erlösungs-Besoffenheit!
Auf der Bühne ist Pucher dagegen allzu nüchtern und erspart den Zuschauern sogar die Irritationen, die die Begegnung mit Alkoholikern, bekennenden Rassisten oder zum Islam Konvertierten dem Leser zumuten, den Despentes in deren Lebensruinen hineinzieht, bis das eigene Weltbild wackelt. In den Kammerspielen stehen Thesen im Raum, von Brüchen weitgehend bereinigt, was zugegeben leicht passiert, wenn 1.200 Buchseiten in 220 Minuten Vorstellungsdauer hineinschrumpfen müssen.
Vor allem aber überrascht, dass Pucher, früher selbst DJ und ein wandelndes Pop-Lexikon, so wenig auf die Magie der Musik einsteigt. Der einst als junger Wilder angetretene Regisseur gehört etwa derselben Generation an wie Despentes und ihre Figuren, weigert sich aber, mit ihnen gemeinsam im Sound der eigenen Jugend zu baden. Statt dessen konzentriert er sich auf eine Handvoll Songs, die Christopher Uhe für ihn auf die Essenz eingekocht und schockgefrostet hat.
Das Versprechen der Musik zu Grabe getragen?
Dass Jelena Kuljić sie singt, die den Subutex spielt, beschert dem Abend zwar einige Glanzlichter – Leonard Cohens „You Want It Darker“ als cooles Requiem und ein A-cappella-Stück über die Résistance, dessen feierliches Pathos halb nach Barrikaden und halb nach Kirche klingt – bringt aber die Figur in eine Schräglage: Denn singend die Menge dirigieren ist ungleich aktiver als das, was Vernon hinter seinem Plattenteller praktiziert und was Kiko „Storytelling durch Leere“ nennt.
Und als würde er obendrein der Strahlkraft Kuljić’ nicht trauen, wird sie in einer Filmeinspielung zum Messias stilisiert: Mit so leidendem Blick und malerisch an ihrem Gesicht herabrinnendem Wasser, dass man sich fast sicher ist, hier gerade ein Dutzend kunsthistorische Anspielung zu verpassen.
Im Film wird auch immer wieder ein Mann auf Händen getragen wie ein Rockstar beim Bad in der Menge oder bei einer Beerdigung. Und nachdem der Filmproduzent Dopalet lange über die Serie „The Walking Dead“ gesprochen hat und schließlich das ganze Ensemble ziemlich untot auf der cleanen Bühne herumsteht, in deren Mitte ein einsamer Plattenspieler auf einer goldenen Säule thront, kommt doch noch die Erleuchtung: Vielleicht hat die Inszenierung gar nicht das Herz ihrer Vorlage verfehlt, sondern nur konsequent die Musik und mit ihr die Hoffnung auf ein lebendiges Miteinander jenseits von Kapitalismus und Terror zu Grabe getragen?
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