Vietnam knöpft sich Menschenschmuggler vor

Vietnams Behörden nehmen nach dem Tod von 39 Migranten bei London zehn Personen fest. Dabei wurde der Menschenschmuggel bisher zum Wohl des Landes geduldet

In der Provinz Nghe An betrachtet eine Angehörige ein Foto der vermissten Anna Bui Thi Nhung, die mutmaßlich im Kühllaster bei London starb Foto: Kham/reuters

Von Marina Mai

Nach dem Fund von 39 Leichen in einem Lastwagen nahe London hat die vietnamesische Polizei acht Verdächtige in der zentralvietnamesischen Provinz Nghe An festgenommen. Sie sollen laut Behörden Teil eines Schleuserrings sein, der Vietnamesen illegal nach Großbritannien bringt, schreiben staatliche Medien. Bereits letzte Woche seien zwei Menschen in Verbindung mit dem Fall in der Nachbarprovinz Ha Tinh festgenommen worden. Wer die Festgenommenen sind, ist unklar.

Aus beiden Provinzen haben sich insgesamt 28 Familien bei Medien und vietnamesischen und britischen Behörden gemeldet, weil sie Angehörige unter den Toten vermuten. Die Identifizierung der Leichen läuft. Der Vize-Außenminister Nguyen Quoc Cuong reiste am Sonntag mit Experten nach Großbritannien, um die kriminaltechnischen Untersuchungen zu unterstützen. Angehörigen war genetisches Material entnommen worden. Die britische Polizei ermittelt wegen Totschlags in 39 Fällen und Menschenhandels.

In Vietnam und den weltweiten Communities der Auslandsvietnamesen gibt es Gedenkgottesdienste für die überwiegend aus katholischen Gemeinden stammenden Vermissten. In Vietnams Nationalversammlung bedauerte ein Regierungsvertreter den Tod der 39 mutmaßlichen Vietnamesen und kündigte eine Bestrafung der Schuldigen an. Eine Außenamtssprecherin sprach von einer „ernsthaften menschlichen Tragödie“.

Das sind neue Töne. Denn traditionell feiert Hanoi die Auswanderung aus Zentralvietnam, solange die Migranten Geld nach Hause schicken. Auslandsvietnamesen schickten 2018 laut Weltbank fast 16 Milliarden US-Dollar nach Vietnam. 2006 waren es erst 3,8 Milliarden gewesen. Bereits diese Summe überstieg die Entwicklungshilfe, die Vietnam aus dem Ausland bekommt. Hanoi überlässt den Geldfluss nicht dem Zufall: Seit 2004 sind spezielle Diplomaten für die Arbeit mit Auswanderern zuständig, ein Auslandsfernsehprogramm sorgt für Heimatbindung und animiert zu Geldtransfers.

Der in Berlin lebende vietnamesische Journalist Trung Khoa Le hat recherchiert, dass die dem Hanoier Innenministerium unterstellte Flughafenpolizei Ausreisende nicht kontrolliert, sofern sie mit bestimmten „Reisebüros“ reisen, die Teil eines Schleusernetzwerkes sind. Der erste Teil der Reise nach Europa geht per Flugzeug nach China oder Russland.

Kontroversere Debatten löste ein Video der staatlichen Zeitung Zing aus einem der Dörfer aus, aus dem drei Menschen vermisst werden. Die 15.000 Einwohner zählende Gemeinde Do Thanh in Nghe An gehörte einst zu Vietnams ärmsten Dörfern. Die Bewohner lebten vom Reisanbau. Heute wohnen die Bauern in Villen und fahren Autos. Die Villen überragt eine majestätische Kirche im Renaissancestil. Die Bewohner sagen offen, woher ihr Reichtum kommt: Von den zehn Prozent der Bewohner, die in Europa oder Taiwan leben und Geld nach Do Thanh schicken. „70–80 Prozent der Villen hier wurden mit Überweisungen gebaut“, sagt Bürgermeister Nguyen Van Ha.

In Vietnams sozialen Netzen wird diskutiert, ob man für Reichtum sein Leben riskieren soll

Obwohl im Unterschied zu anderen zentralvietnamesischen Gemeinden das Leben in Do Thanh nichts mehr mit Armut zu tun hat, machen sich noch immer Bewohner auf den Weg ins Ausland. Das große Geld lockt. Wie es verdient wird, will keiner genau wissen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das meiste Geld mit dem Anbau von Cannabis in verlassenen britischen Bauernhöfen verdient werden kann. Dieses Geschäft ist fest in vietnamesischer Hand.

In Vietnams sozialen Netzwerken wird jetzt debattiert, was Reichtum wert ist. Soll man dafür sein Leben riskieren? Die Debatte erinnert an den Roman „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt aus der Schweiz der 1950er Jahre. Die Behörden haben bereits 2007 mehrere Aufführungen, die mit Unterstützung des Goethe-Institutes entstanden, verhindert.

meinung + diskussion