Nach Giftanschlag auf Alexei Nawalny: „Wir wollen nach Gesetzen leben“
Nach dem Anschlag auf Alexei Nawalny wollen seine Anhänger in Nowosibirsk das Machtmonopol der Regierungspartei brechen. Jetzt erst recht.
Schockstarre. Das war das erste, was sich hier, in der Sibirienstraße in Nowosibirsk ausbreitete. „Alexei, er war doch erst hier, er hat mit uns gesprochen, hat gelacht, wir fuhren ihn durch die Stadt. Und jetzt vergiftet!“, sagen sie im Nawalny-„Stab“, untergebracht in zwei großen Räumen unweit der Nowosibirsker Kathedrale, wo Plakate mit Kandidat*innen für die Regionalwahl am 13. September stehen, wo Freiwillige Sticker verteilen, Infobroschüren mit den Konterfeis der Frauen und Männer, die hier Stadtratsabgeordnete werden wollen. „Überrascht war ich nicht“, sagt Pjotr Manjachin, der 22-jährige Journalist, der für den Bezirk 7 im Norden der Stadt kandidiert. „Es zeigt sich lediglich, dass Vergiftung politischer Opponenten nun zum neuen Merkmal unseres Staates gehört.“
Kirill Lewtschenko, der einst seine Stelle bei einer Bank verlor, weil er sich mehrfach kritisch über Wladimir Putin geäußert hatte und seit 2018 im Nawalny-„Stab“ der Stadt arbeitet, packt die Wut. „Ja Hass, weil uns allen gezeigt wurde, dass es jeden treffen kann, der eine andere Meinung äußert. Aber: Jetzt kennt auch jeder den Namen Nawalnys, selbst jedes Großmütterchen, das ich während meines Wahlkampfes antreffe, fragt, wie es Alexei gehe und wünscht uns Erfolg“, sagt der 38-Jährige. „Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir machen hier weiter unseren Job. Das Machtmonopol der Regierungspartei Einiges Russland muss gebrochen werden“, sagen hier alle: Der 18-jährige Karim genauso wie der 62-jährige Pilot Igor Gawrilenko, der als Unabhängiger in den Stadtrat gewählt werden will und mit 31 Frauen und Männern als Koalition Nowosibirsk 2020 von Nawalny unterstützt wurde.
„Die Bau-Monopolisten haben einen Teil der Staatsgewalt komplett gekapert. Sie schreiben sich ihre Gesetze selbst. Sie verabschieden sie. Ebenso wie den Etat. Sie kontrollieren sich selbst. Sie bauen und sie zahlen sich selbst Gelder aus. Kurz gesagt: Sie steuern die Stadt.“ Es ist Nawalny, der diese Sätze sagte, flott und selbstbewusst. Hier am Ufer des Ob in Nowosibirsk. Kirill Lewtschenko hatte den 44-Jährigen hierher gefahren, hatte mit anderen aus der Koalition erzählt und gezeigt, was schief läuft in dieser „Stadt des Transit“, wie sie alle in Nowosibirsk sagen.
Zwei Tage später brach Nawalny schreiend an Bord eines Flugzeuges, das ihn hätte aus Sibirien zurück nach Moskau bringen sollen, zusammen – weil er, so ist die deutsche Bundesregierung nach den Untersuchungen der Bundeswehr, überzeugt, mit Nowitschok, einem Nervenkampfstoff aus sowjetischen Laboren, vergiftet worden sei. „Dass es tatsächlich Nowitschok war, hat uns nicht überrascht“, sagt Pjotr Manjachin. „Es hat eher die Gesetzmäßigkeit solcher Taten aufgezeigt, die sich von Seiten des Staates gegen jeden politisch Andersdenkenden richten.“
Vier Flugstunden von Moskau entfernt
Der Film, in dem sich Nawalny bröckelnde Neubauten zeigen lässt, Stadtteile besucht, die kaum Infrastruktur aufweisen, und Abgeordnetenvillen auf einer Insel präsentiert, kam erst in Umlauf, als der Kreml-Kritiker bereits seit Tagen im Koma lag, erst in Omsk in Sibirien, nun in Berlin, angeschlossen an ein Beatmungsgerät. Ausgang: ungewiss.
Es ist Pjotrs Stadt, Igors Stadt, Kirills Stadt, über die Nawalny in diesem Film spricht: Die drittgrößte Russlands, 1,6 Millionen Einwohner*innen, vier Flugstunden von Moskau entfernt. Auf zwei der neun Bauunternehmer, die, wie Nawalny es nennt, Nowosibirsk „gekapert“ hätten, geht er in dem 40-Minüter detailliert ein. Im Stadtrat sitzen sie, für die Regierungspartei Einiges Russland. Und eben diesen Stadtrat will er mit seiner Kampagne von solchen „Besatzern befreien“. 50 Sitze gibt es im Stadtrat, 32 davon will Nawalny mit seinen Leuten aus der Koalition nach der Wahl besetzen.
Kirill Lewtschenko vomNawalny-„Stab“in Nowosibirsk
Genau solche Methoden fürchtet der Kreml. Zwar setzt Moskau auf eine straffe Vertikale der Macht, sodass die Strukturen in den Regionen wenig zu melden haben. Doch ohne loyale Abgeordnete in Provinzvertretungen, die die Direktiven aus Moskau umsetzen und die Propaganda auch in die hintersten Ecken des Landes tragen, würde das System Putin nicht funktionieren. Und hier setzt Nawalny mit seiner Methode „Kluges Wählen“ an. Da zu Wahlen im Land kaum je unabhängige Kandidat*innen zugelassen werden, empfiehlt Nawalny, für Kandidat*innen der systemtreuen Opposition – wie zum Beispiel die Kommunist*innen – zu stimmen. Damit will er – mit seinen „Stäben“ quer durchs Land – Einiges Russland die Stimmen nehmen. Er bietet sich also als Dienstleister an und präsentiert auch den politikfaulsten Unzufriedenen eine Lösung: „Du bist nicht einverstanden mit dem, was vor deiner Tür läuft? Dann stimme für den oder die in deinem Bezirk, denn wir halten ihn oder sie für die aussichtsreichste Person, die „Jedinorossy“ (so nennt er die Vertreter*innen der Regierungspartei) zu schlagen.“
In Moskau hat diese Taktik bei der Stadtparlamentswahl gegriffen. In Nowosibirsk wollen Pjotr Manjachin, Kirill Lewtschenko, Igor Gawrilenko und so viele andere ebenfalls Erfolg damit haben. „Es reicht. Wir wollen nach Gesetzen leben“, sagt Lewtschenko und schaut im Telefon nach, ob es Neuigkeiten aus Berlin zu Nawalnys Gesundheit gibt.
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