NSU-Untersuchungsausschuss: Eine erschreckende Bilanz
70 Sitzungen, fast 100 Zeugenvernehmungen und 11.667 Aktenordner. Der NSU-Ausschuss beendet seine Arbeit – mit 10 signifikanten Ergebnissen.
Ziellose Zielfahnder – trotz Hinweisen
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe tauchten überstürzt unter, als am 26. Januar 1998 in Jena die Garage durchsucht wurde, in der das Trio Bomben baute. Für die Zielfahnder der Polizei eigentlich ideal, hinterließen die drei doch zahlreiche Hinweise darauf, wo sie zu finden sein könnten. Doch die wichtigsten wurden ignoriert.
Zentral ist eine Adressliste, die Mundlos bei der Flucht liegen ließ. Sie liest sich heute wie ein Who’s who der NSU-Unterstützer. Die Namen von zwei der nun als NSU-Helfer Angeklagten stehen darauf. Zehn Einträge führten nach Chemnitz, wo das Neonazi-Trio die ersten zwei Jahre im Untergrund lebte. Auch Kontakte in Städten, in denen der NSU mordete, finden sich dort.
Diese „Garagenliste“, so sagte ein Thüringer Zielfahnder im Untersuchungsausschuss, habe ihn nie erreicht. Vermutlich ist sie im Landeskriminalamt versandet – einer der schlimmsten Fahndungsfehler in der Geschichte der Bundesrepublik.
Ermittler im V-Leute-Debakel
Ein riskantes Spiel: Um an Infos aus abgeschotteten Milieus zu kommen, versuchen die Dienste und die Polizei, Extremisten zu finden, die gegen Geld zum Verrat bereit sind.
Das Neonazi-Trio war umzingelt von solchen V-Leuten – und konnte dennoch ungestört morden. Mindestens neun V-Leute bewegten sich laut einer geheimen Liste im Umfeld der drei. Sie trugen Tarnnamen wie „Piatto“, „Corelli“ oder „Otto“. Manche von ihnen waren brutale Gewalttäter. Einer saß wegen Mordversuchs an einem Nigerianer im Gefängnis, und wurde noch während der U-Haft V-Mann.
Skandalträchtig ist vor allem der Fall Thomas S. Er beschaffte dem Trio Sprengstoff und verhalf ihm nach dem Abtauchen zu einer Unterkunft. Später wurde er V-Mann des Berliner Landeskriminalamts. Zwar machte er 2002 vage Andeutungen über drei flüchtige Thüringer, verschwieg aber alles Weitere. Heute beschuldigt die Bundesanwaltschaft S. als NSU-Helfer.
Geheimschutz ging vor
Auch wenn die V-Leute im Umfeld des NSU nicht alles berichteten, was sie wussten, oder sogar dreist logen, hatten die Geheimdienste genügend Hinweise, aus denen sie hätten schließen müssen: Die drei Neonazis sind in Sachsen und bilden im Untergrund eine bewaffnete Bande.
Es gab Hinweise auf ein erstes Versteck des Trios in Chemnitz, darauf, dass sich die drei Waffen beschaffen wollten, dass sie Überfälle begehen könnten. Im September 1999 sagte ein Neonazi dem Militärischen Abschirmdienst, er glaube, dass die drei sich „auf der Stufe als Rechtsterroristen“ bewegten.
Die Polizei erfuhr von all dem jedoch nichts. Die Dienste – allen voran der Thüringer Verfassungsschutz – behielten es für sich. Geheimschutz ging vor Menschenschutz.
Schuldige statt Opfer
Günther Beckstein hatte den richtigen Riecher. Am 9. September 2000 war in Nürnberg der Blumenhändler Enver Simsek erschossen worden. Zu einem Zeitungsbericht vermerkte der bayerische Innenminister: „Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?“
Die Polizei antwortete, es gebe dafür „keine Anhaltspunkte“. Sie vermutete Verbindungen zur Drogenmafia, weil Simsek regelmäßig in Holland Blumen gekauft hatte.
Bei den späteren Morden ging es so weiter. Glücksspiel, Schutzgeld, Rauschgift: die Polizei vermutete den Hintergrund fast ausschließlich in der organisierten Kriminalität. Die Opfer wurden zu Mitschuldigen. Die Polizei hörte Telefone der Angehörigen ab, verwanzte deren Autos und schleuste verdeckte Ermittler in ihr Umfeld ein.
Richtige Fragen, falsche Antworten
„Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten“ heißt ein internes Papier des Bundesamts für Verfassungsschutz vom Juli 2004. Darin stellte der Dienst richtige Fragen – kam aber zu völlig falschen Antworten: „keine rechtsterroristischen Strukturen erkennbar“, „keine wirkungsvolle Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund heraus führen zu können“, „mit Anschlägen auf Objekte ist eher zu rechnen als mit solchen auf Personen“.
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe werden in dem Papier explizit genannt. Das lapidare Fazit: Seit dem Abtauchen hätten sich „keine Anhaltspunkte für weitere militante Aktivitäten der Flüchtigen ergeben“.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU schon fünf Menschen ermordet und zwei Bombenanschläge verübt. Auch das Kürzel der Terrorgruppe war in dem Neonazi-Heft Der Weisse Wolf bereits aufgetaucht. Dort hieß es: „Vielen Dank an den NSU.“
Vorurteile, Vorurteile, Vorurteile
Es hätte eine Chance gegeben, nach Jahren des Ermittelns in die falsche Richtung doch noch der richtigen Spur nachzugehen. Ein bayerischer Polizeiprofiler legte nach dem neunten Mord des NSU im Mai 2006 eine Analyse vor, wonach sich die Täter vor der Mordserie in der rechten Szene bewegt, diese aber als zu schwach angesehen haben könnten und nun selbst zur Tat schreiten würden. Genau so war es.
Doch andere Ermittler wollten der Analyse des bayerischen Polizeiprofilers nicht glauben, sodass das baden-württembergische Landeskriminalamt eine weitere erstellen ließ. Das Papier vom Januar 2007 ist ein erschreckendes Beispiel für rassistische Stereotype in deutschen Behörden.
Die Opfer seien mit einer kriminellen südosteuropäischen Bande mit einem „rigiden Ehrkodex“ aneinandergeraten, stand in der neu erstellten Analyse. Deren „Häuptling“ habe die Morde in Auftrag gegeben, um sein Gesicht zu wahren.
Bananenrepublik Deutschland
Es hat immer wieder Auftritte von Beamten vor dem NSU-Ausschuss gegeben, die einen ratlos zurückließen: Erinnerungslücken, Einsilbigkeit, Ahnungslosigkeit. Und dann gab es jene Momente, in denen selbst staatstreue Abgeordnete verzweifelten.
In Nürnberg und München betrieben V-Personen der Polizei zum Schein Dönerbuden. Rechnungen von Lieferanten wurden absichtlich nicht bezahlt, um damit eine möglicherweise hinter den Taten steckende Dönermafia zu provozieren. Vielleicht würde ja sogar das Killerkommando auftauchen?
Die Hamburger Polizei musste sogar zugeben, einen Geisterbeschwörer angeheuert zu haben, der ein NSU-Opfer im Jenseits kontaktierte. Es habe nichts gekostet, verteidigte sich die Behörde.
Zusammenhang nicht erkannt
Nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 war die Chance, die Täter zu finden, groß. Es gab ein Video von den beiden Tätern, das zeigte, wie sie ihre Bombe auf einem Fahrrad zum Tatort schoben.
Auch bei der Migrantenmordserie waren Zeugen zwei Männer mit Fahrrädern aufgefallen. Eine Frau, die in der Nähe eines Tatorts in Nürnberg war, schaute sich das Video mit den Bombern von Köln an – und erkannte Ähnlichkeiten.
Doch die Ermittler fanden, dass – wie es hieß – „Äpfel nicht mit Birnen verglichen werden können“. Dabei kursierte auch in der Keupstraße in Köln die Vermutung, dass es zwischen dem Anschlag und den Morden eine Verbindung geben könnte. Die Staatsanwaltschaft Köln hielt das allerdings für eine „Verschwörungstheorie“.
Falsche Prioritäten
Ende der neunziger Jahre radikalisierte sich die deutsche Neonazi-Szene. Doch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA verschoben sich die Prioritäten. Der Kampf gegen den islamistischen Terror drängte alles andere in den Hintergrund.
Gesetze wurden verschärft, Behörden umgebaut, Personal wurde umgesetzt. In Berlin entstand ein Gemeinsames Terrorabwehrzentrum. Dorthin zog auch der Verfassungsschutz mit seiner neuen Abteilung „Islamismus und islamistischer Terrorismus“.
Die Rechtsextremismusabteilung ließ Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) dagegen 2006 mit der Abteilung Linksextremismus zusammenlegen. Erst nach Auffliegen des NSU wurden die Bereiche wieder getrennt. Jetzt gibt es auch ein Abwehrzentrum gegen rechts.
Bekennerschreiben erwartet
Man habe die Taten des NSU nicht als Terror erkannt, weil es über Jahre keine Bekenntnisse zu den Taten gegeben habe, entschuldigten sich im NSU-Ausschuss mehrere Beamte. „Dies hätte man auf jeden Fall erwartet“, sagte der Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke.
Dabei hat es immer wieder rechte Anschläge ohne Bekennerschreiben gegeben, etwa beim Münchner Oktoberfest 1980 oder in Solingen 1993. Auch in Szene-Anleitungen zum „führerlosen Widerstand“ wird der Untergrundkampf in kleinen „Phantomzellen“ propagiert und von Bekenntnissen abgeraten.
Als ein Vorbild wird dort John Ausonius genannt. Anfang der neunziger Jahre schoss er in Schweden immer wieder hinterrücks auf Migranten, einen Mann tötete er. Erst lange nach seiner Verhaftung gestand Ausonius die Taten. Dass seine Taten eine Blaupause für den NSU gewesen sein könnten, darauf kam der Verfassungsschutz erst, nachdem die Terrorgruppe aufgeflogen war.
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